Von Katrin Brehm
18.04.2021 / theatermorgen.com
Das Online Projekt „1000 Scores – Pieces for Here, Now & Later“ von Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke scheint auf dem ersten Blick eine Theaterproduktion frei von Barrieren zu sein: Der Kauf einer Eintrittskarte, der übliche Weg zum Theaterhaus und die Gebundenheit an einen bestimmten Ort oder eine Uhrzeit entfallen. Stattdessen lädt eine Online Plattform Besucher*innen zum Experimentieren mit Geräuschen, Stimme und Texten ein und ermöglicht so eine einfache Umsetzung eigener, persönlicher Performances.
Zentrales Element dabei sind Scores, Anleitungen und Ideenskizzen von kleinen Aktionen und (Gedanken)experimenten, die im Grunde jede*r, der*die die Anweisungen liest, durchführen könnte. „Event Scores“ entstanden während der Fluxus-Bewegung und wurden maßgeblich von der japanisch-amerikanische Konzeptkünstlerin Yoko Ono sowie ihrem Werk „Grapefruit“ geprägt. Diese Sammlung zahlreicher Scores fokussiert keine künstlerischen Endergebnisse, vielmehr entsteht das Kunstwerk, durch das auf Papier bringen der Idee einer Performance oder eines Musikstücks. Im Zentrum dieser Idee steht die Teilnahme und die Überführung der Kunst ins tägliche Leben.
Auf 1000scores.com sind über 50 Handlungsanweisungen von Künstler*innenkollektiven vielfältiger Herkünfte veröffentlicht. Zu Beginn überfordert die Vielzahl der Scores, die auf der Website nebeneinander als gleichförmige Quadrate arrangiert sind. Ein ‚Klick‘ führt die Besucher*innen zu Anleitungen in Form lyrischer Texte, Bilder oder Audiodateien, die Rezipient*innen in ein eigen konstruiertes Performance-Setting versetzen. In Zeiten geschlossener Theaterhäuser verwandelt sich mittels (Alltags)Requisiten wie Smartphone, Weinglas oder Bleistift die eigene Komfortzone, – die Küche, das eigene Wohnviertel oder der Park nebenan – zur Bühne.
Einige Scores wirken kryptisch und absurd, irritieren oder machen neugierig: „Some Things Cannot Be Undone. Others Can“ von David Helbich lädt zum spielerischen Musizieren mit einem mit Wein gefüllten Glas ein, die Ideenskizze „M•U•E•B•L•E“ von Juan Betancurth führt zu einer außergewöhnlichen Interaktion mit den eigenen Möbelstücken und „Procession“ von Tom Lee ist eine detaillierte Anleitung zum Basteln einer Schattentheater Box.
Trotz des niederschwelligen Konzeptes von „1.000 Scores“ verlangen die Anweisungen eine gewisse Offenheit, Muße und Zeitressourcen. Zwar bieten die Scores eine Chance, aus dem monotonen Lockdownalltag auszubrechen, doch
stellt sich die Frage, an wen dieses Projekt adressiert ist: Menschen, die sich nicht bereits mit Happenings und Aktionskunst auseinandergesetzt haben, können schwer(er) Zugang finden. Zudem hätte eine Chatfunktion oder ein gemeinsames Forum Besucher*innen der Plattform die Chance geboten, untereinander in Kontakt zu treten und Erfahrungen auszutauschen. Dadurch wären die zahlreichen Einzelperformances schließlich zu einem gemeinsamen Erlebnis geworden. Ohne diese Vernetzungsmöglichkeit verkommt die Umsetzung der Scores mitunter zu einer relativ einsamen Tätigkeit, die sich manchmal nahezu sinnlos und selbstinszenatorisch anfühlen kann.
Doch zentral bei dieser Produktion ist der Grundgedanke, das Konzept. Ob jemand die Handlungsanweisung wirklich wie vorgegeben ausführt, spielt dagegen eher eine untergeordnete Rolle. Auch wenn Aktionen nur in Gedanken ablaufen, verlieren sie nichts an ihrem subversiven Potential, an ihrer Aussage- oder Gestaltungskraft: Kunst muss nicht in altehrwürdigen Institutionen stattfinden, sondern kann ebenso in der persönlichen Alltagsrealität Platz finden – völlig gleich ob im Bett, in der U-Bahn, beim morgendlichen Kaffee oder auf der Toilette.