Von Hans-Dieter Schütt
08.02.2008 / Neues Deutschland
Andere Städte wähnen sich noch immer gern als heimliche Metropole des Landes, weil sie um den täuschenden Wert der einnehmenden Fassade wissen.
Schminke hebt. Maske lockt. Vorspiegelung überzeugt. Berlin war jederzeit anders. Es zeigte seine Einschuss-Narben. Es ging mit seiner Unfreundlichkeit paradieren. Es ging seiner Hässlichkeit nicht aus dem Wege. Man könnte – auf die Glasbetonage der neuen Mitte schauend – sagen: Das war einmal, aber zum Glück verwächst sich ein seelischer Zustand langsamer, als jede noch so kalte Architektur aus den Baulöchern wuchern kann. Berlin muss um seinen widersprüchlichen, zwielichtigen, großfressigen, offen verderbten Ruf weder fürchten noch kämpfen. Er ist stabil. Man glaubt zu wissen, wer und was das sei, der Berliner.
»100% Berlin« nennt die Regie-Gruppe Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel) ihre »Statistische Kettenreaktion«, uraufgeführt im Hebbel am Ufer; ein Stück Anlasskunst zur 100- Jahr-Feier rund ums Hebbel-Theater. Hundert Berliner bevölkern die Szene (Bühne: Mascha Mazur, Live-Musik: Di Grine Kuzine); einer hat den jeweils nächsten vorgeschlagen, am Ende musste sich in den hundert Kandidaten, vom Säugling bis zum Greis, der exakte Querschnitt durch den statistischen Bestand Berlins ergeben (Alter, Herkunft, Repräsentanz der Stadtbezirke, Alter, Geschlecht, Familienstand ...). Jeder steht gleichsam für 34 000 Menschen der Stadt.
Langsam bewegt sich die Drehbühne, die Leute stellen sich kurz vor, jeder hat etwas mitgebracht, das ihm Erkennungszeichen, Charakteristikum ist: Orden vom Hundeverein, Hertha-Trikots, Silikonimplantate, die obligatorische Schiebermütze, eine Ampelmännchentasche, der Propeller eines Modellbauflugzeugs ... Drei kreisrunde Leinwände bieten den Kamerablick von oben auf die Hundert, denn die Hauptaktion des knapp neunzigminütigen Abends bleibt Statistik; Fragen werden auf den Rundhorizont projiziert, und Berlin teilt sich: Je nach Antwort-Alternative (»Ich«/»Ich nicht«) wechseln die Menschen die Seite. So bleibt die Aufführung im wahren Sinn des Wortes in Bewegung. Später sitzen alle gestaffelt auf der Bühne und halten – jetzt haben sich die Antwortmöglichkeiten gesteigert – farbige Antwortkärtchen in die Höhe. Jede Frage gerät wohl jedem Zuschauer im aufgeräumt wirkenden Publikum zur anregenden Selbstprüfung. Wer schreibt seine Briefe noch mit der Hand? Wer würde töten, um seine Familie zu verteidigen? Wer hat schon einmal Leben gerettet? Wer hat das Gefühl, durch alle Raster zu fallen? Acht Berliner bekennen sich dazu, für einen Tag die Weltherrschaft zu übernehmen. Weit über die Hälfte haben schon mal ihren Partner betrogen. Nur zwei sind ohne Mutter aufgewachsen. Die meisten fühlen sich einer Minderheit zugehörig. Nur drei von hundert sind Mitglieder einer Partei – Berlin sei also klüger, als man denkt, ruft’s aus dem Publikum. Erschütternd groß die Zahl derer, die bereits Opfer von Gewalt wurden. Applaus für zwei, die gestehen, regelmäßig schwarz zu fahren. Erstaunlich hoch die Zahl derer, die mehr als drei Tage in der Woche abends allein sind. Statistik, Umfrage, Studie – Begriffe, die eher dem Verdacht zuarbeiten, Leben müsse weichen, Erfahrung werde ausgetrieben, Unverwechselbares werde zu etwas Trockenem zerrieben. Rimini Protokoll – dies Spezialistenteam,
dessen überhöhungsvorsichtige Kunstwirklichkeit in gesteigerter Wirklichkeitskunst besteht – verknüpft Mengen-Lehre und individuelle Reaktion; jenes statistische Amt, welches hier errichtet wird, bleibt doch gleichzeitig eine Höhle des unangreifbar Persönlichen, das in Statistik eingeht, ohne darin zu verschwinden.
Ein sympathisches, nachdenklich stimmendes Spiel mit hundert kleinen Wirklichkeiten in einer großen gemeinsamen Realität. Man schaut, man merkt sich Gesichter; es fällt einem auf, dass einer, der sich vorstellen könnte, Weltherrscher zu sein, ohne Eltern aufwuchs und keine Arbeit hat und »ehemalige politische Häftlinge der DDR-Diktatur« zur größten Gruppe zählt, zu der er sich bekennt. So schwirren Biografie-Partikelchen herum, finden zueinander, bilden ein Mosaik, entfernen sich wieder, halten alles, was sicher gefügtes Bild werden will, am Ende doch im Diffusen, nur Ahnbaren. Plastisch werden die ungezählten unerzählten Geschichten, die uns mit jedem Menschen, dem wir auf der Straße begegnen, entgegenkommen und hinter uns wieder verschwinden. Und die doch weiter existent bleiben. Es ist just dies, was jeden kleinsten Ort und auch jede Großstadt wie Berlin zum Universum weitet, dessen Geheimnisse größer sind als seine Plakatierungen.