Weil er riskierte, zu leiden

Prometheus in Athen – Rimini Protokoll zeigen im Rahmen der Promethiade einen Theaterabend über einen Theaterabend

Von Regine Müller

31.07.2010 / www.nachtkritik.de

Ein Theaterabend über einen Theaterabend. Kann das funktionieren? Es kann. Und zwar genau dann, wenn schon das erste Theater gar kein Theater im handelsüblichen Sinne war. Sondern jene sehr spezielle Mischung aus Interview, Dokumentation und Inszenierung, mit der sich das Kreativ-Kollektiv Rimini Protokoll seinen schillernden Namen in der Theater-Szene erworben hat. Ein Theaterabend über einen normalen Theaterabend ist Volkshochschule. Ein Theaterabend über einen Rimini Protokoll-Abend dagegen ein Konzentrat. Denn die Authentizität des Realen, von dem Rimini Protokoll-Abende leben, verliert sich nicht durch die Distanz einer Meta-Betrachtung. Sie verstärkt sich womöglich sogar noch.

Krisenexperten mit mythologischer Identifikationsfigur
Im Essener Zollverein war nun im Rahmen des Sommerfestivals "Promethiade" einmalig das Kondensat einer besonders aufwändigen Produktion zu sehen, die vor zwei Wochen in Athen im Herodion des Herodes Attikus Premiere hatte. Wie immer bei Rimini Protokoll entstammte das Personal auf der imposanten antiken Bühne am Fuße der Akropolis keinem Schauspieler- Ensemble, sondern dem wirklichen Leben. Die so genannten Experten des Alltags vertraten diesmal nicht eine bestimmte Profession, sondern ziemlich genau den statistischen Durchschnitt der Athener Bevölkerung. Inklusive Alterspyramide und Sozialgefälle.

Allerdings unter einer bestimmten Voraussetzung. Denn die Theatermacher haben gezielt nach Athenern gesucht, die etwas zum antiken Prometheus-Mythos sagen und sich mit einer der Figuren der Tragödie von Aischylos identifizieren wollten und konnten. Zehn von diesen Erben des Mythos wurden dann Startpersonen von wiederum zehn Casting-Ketten-Reaktionen. Will sagen, jede Startperson nannte weitere interessante Menschen aus ihrem Umfeld, bis nicht weniger als 103 Athener beisammen waren.

In einem langen Reigen stellten sich vom Kleinkind bis zur rüstigen Oma, vom Künstler bis zum Taxifahrer alle persönlich vor und nannten ihre mythologische Identifikationsfigur. Besonders viele Athener bekannten sich – der aktuellen Krise zum Trotz? – zu Prometheus, "Weil er Geduld und starken Willen zeigte", aber auch "Weil er riskierte, zu leiden".

Statistik als Choreografie
Auf die Vorstellungsrunde folgte ein Spiel, in dem ein Bombardement elementarer moralischer und politischer Fragen auf die Athener einprasselte. In "Ich" und "Ich nicht" war jeweils eine Bühnenhälfte abgeteilt, für die die Athener sich zu entscheiden hatten. Oder sie gruppierten sich hinter "Ja" und "Nein" - Schildern. So wurde Statistik unversehens zur lebendigen Choreographie.

In Essen war diese Situation unter einem die ganze Bühnenbreite einnehmenden Video-Screen nachgestellt. Auf der linken Seite eine Übersetzerkabine, auf der rechten Seite im Halbdunkel das Regieteam. Dann lief der Film des Athener Abends ab und stoppte immer dann, wenn der Leinwand leibhaftig fünf der 103 Athener gewissermaßen entstiegen, die in Essen nun live dabei waren.

Nur fünf der 103 Athener Kurzgeschichten, und dennoch entsteht auch in Essen der jener zwischen erhellender Heiterkeit und tiefem Ernst schwankender Zauber, der die besten Arbeiten von Rimini Protokoll auszeichnet. Aus der Statistik werden Gesichter, es entsteht eine hoch ausdifferenzierte Topographie der Stadt, ein Mosaik aus Gruppen und Einzelschicksalen, mit all ihren Widersprüchen und Gemeinplätzen.

In Essen ist ein EU-Beamter dabei, eine Kommunikationsspezialistin und eine 16-jährige Jung-Kommunistin. Sie bekennen sich zum Glauben, zu moralischen Überzeugungen, sie äußern Hoffnung und Sehnsucht, Angst und Resignation. Und überraschen immer wieder mit Bekenntnissen, die man ihnen nicht zutrauen würde. Über jeden den Fünf wüsste man gern mehr, über jeden der 103 auf der Bühne des Odeon, über jeden der 2,8 Millionen Athener.

Große Begeisterung in Essen für einen faszinierenden Theater-Theaterabend.


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