Wege im Ohr

„Call Cutta“: Theater per Handy in Kalkutta und Berlin

Von Martin Kämpchen

07.03.2005 / Frankfurter Allgemeine Zeitung

KALKUTTA, im März:

Zärtlich wie Kinder ein Püppchen trägt man auch in Kalkutta Mobiltelefone. Sie sind kein Statussymbol mehr, sondern Nervensägen in der ohnehin hyperkommunikativen indischen Gesellschaft. Diese Elektronik-Fröhlichkeit hat drei clevere junge deutsche Theatermacher, die sich „Rimini Protokoll“ nennen, auf eine Idee gebracht: Theater per Mobiltelefon zu spielen. Der Anrufer ist Regisseur und der Angerufene der Zuschauer, die Bühne ist das Labyrinth von engen Gassen, Hinterhöfen, Hausdurchgängen und belebten Sträßchen in Hatibagan, Nordkalkutta, jenem ältesten und geschichtsträchtigsten Teil der Stadt. Während der Zuschauer, Knopf im Ohr, durch den Irrgarten geführt wird, auf Skulpturen an den Fassaden schaut, vom Leben längst verblichener Schauspielerinnen erfährt, die just in dem Haus geboren wurden, das er gerade passiert, fühlt er sich vom Strudel von Geschichte und Geschichten erfasst, und die enge, arme, durchaus heitere Nachbarschaft verwandelt sich zu seiner Bühne und er zum Akteur.

Wer aber sitzt am anderen Ende der Leitung und führt durch die Stadt? Es sind junge Menschen aus Kalkutta, die meist früher in Call Centres gearbeitet haben, wo sie beispielsweise amerikanischen Anrufern die Flugzeiten vom Airport in Chicago mitgeteilt haben. Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel hat diese explosiv sich auswuchernde Situation des Outsourcing auf die Idee gebracht, sie einmal nicht kommerziell sondern kulturell zu nutzen. Mit dem Goethe-Institut in Kalkutta entwickelten sie die Idee zu einem praktikablen Spiel, das sie beziehungsreich „Call Cutta“ getauft haben. Die deutsche Kulturstiftung des Bundes wurde ein zusätzlicher Partner.

Zehn Mitarbeiter haben sich genauestens mit der Topographie von Hatibagan vertraut gemacht. Erst mussten Stadtkarten angefertigt werden, in dem jedes Eisentor vermerkt und jedes Lädchen registriert wurde. Seit Anfang dieses Monats sitzt das Team ein paar Kilometer entfernt in einem modernen Büroturm, sinnigerweise Infinity Tower genannt, und schickt vom berühmten, gerade renovierten Star Theatre, wo die Handys ausgehändigt werden, alle zehn Minuten einen neuen Kandidaten auf eine rund anderthalbstündige Irrfahrt. Zwei Monate dauert das Experiment, und inzwischen wird der Spieß umgedreht: Vom 2. April an begleitet dasselbe Team – sorgfältig vorbereitet, doch ohne Berlin je gesehen zu haben – Berliner Bürger auf einer Strecke zwischen Kreuzberg und Potsdamer Platz, einer Gegend voll von Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg.

So geschickt dieses interaktive und interkulturelle Experiment erdacht ist, es steht und fällt doch mit der Qualität der unsichtbaren Regisseure. Die verbale Kommunikation mit den Menschen auf der Gasse muss präzise funktionieren, zudem soll in Windeseile eine menschliche Partnerschaft zustande kommen, bei der einer den anderen lockt und herausfordert, spielerisch die Räume der Geschichte auszumessen. Gelingt dies, wird es zu einem lehrreichen Vergnügen. Der Chronist jedoch verlief sich gegen Ende der Tour, und der Versuch, ihn aus dem Infinity Tower zu orten und weiterzusteuern, misslang so oft, bis der Akku leer war und nur noch das rettende Taxi zum Ausgangspunkt übrig blieb. Hier zeigt sich die existentielle Ebene des Spiels: Der Irrgarten der Geschichte wurde zum Lebenslabyrinth. Das ist eben das Risiko von „Call Cutta“.


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Call Cutta