Von Philipp Gut
08.07.2006 / Tagesanzeiger
Kürzlich hat Peter Stein im Zürcher Theater am Neumarkt jede Zeile des «Wallensteins» gelesen; jetzt zeigt das Schauspielhaus eine Inszenierung, die auf gegenteiligeWeise ins Extrem geht: Bei Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Regiekollektiv Rimini Protokoll bleibt von Schillers Text so gut wie nichts übrig. Und doch ist die Inszenierung, die ans Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, näher am Klassiker dran als so manche andere, die den unmöglichen Anspruch der «Werktreue» erhebt. Rimini Protokoll schafft ein Theaterwunder, bei dem sich die Grenze zwischen Regietheater und dokumentarischem Theater ebenso auflöst wie diejenige zwischen Laientum und Professionalität. Das geht, ganz konkret, so. Auf der Bühne stehen keine Schauspieler, sondern Leute wie du und ich. Zum Beispiel Dr. Sven Otto, abservierter CDU-Politiker aus Mannheim. Oder Rita Mischereit, die eine Seitensprungagentur betreibt. Oder die Vietnam-Veteranen Dave Blalock und Stephen Summers. Sie alle agieren als Experten, weil sie ausschliesslich von dem berichten, was sie sind und tun. Dass dies dann auch mit dem «Wallenstein» zu tun hat, verdankt sich den klugen Arrangements des Regieduos. Wie in Schillers Trilogie geht es in den Berichten um Macht und Intrige, Gehorsam und Verrat, Freiheit und Schicksal. Die Verbindungen zum «Wallenstein» sind manchmal hintergründig, manchmal explizit. Der schwarze Vietnam-Veteran Summers, im Tarnanzug und mit grauen Rastalocken, sagt: « Mein Lager hiess Nixons Lager » – eine Anspielung auf den ersten Teil des Stücks («Das Lager »). Aneignung heisst hier immer auch Entlarvung. Während die Multikulti- Söldnertruppe bei Schiller zu einer imaginären Einheit «zusammengeschmiedet» wird, erzählt Summers vom alltäglichen Rassismus auf dem Reisfeld der Ehre. Schwärzer noch ist die Erfahrung seines weissen Veteranenkollegen Blalock: Er berichtet von einemMord am Kommandanten (im Vietnamkrieg sollen über 1000 US-Offiziere von eigenen Truppen umgebracht worden sein). Überblendet wird der Dreissigjährige Krieg des «Wallenstein» auch mit dem Zweiten Weltkrieg. Robert Helfert war Flakhelfer im untergehenden Dritten Reich, und er ist Edelstatist im Mannheimer Theater. Ob er die Soldatenlieder von dort oder aus dem Kriegsalltag der Wehrmacht kennt, weiss er nicht mehr. Nibelungentreue hier, Verrat dort: «Von falschen Freunden kommt mein ganzes Unglück», dieser Satz geht Dr. Otto nicht mehr aus dem Sinn. Der Politiker wurde von eigenen Leuten am Wahltag verarscht. Noch näher dran an unserem Alltag ist Rita Mischereit. Immer wieder klingelt ihr Handy. Ihre Dienstleistung ist der Liebesverrat. Für 125 Euro sind Sie dabei.
Letzte Vorstellung: Heute Samstag, 19 Uhr, Schiffbau.
Tages-Anzeiger; 08.07.2006; Seite 47 Kultur/savoir-vivre