Von Ulrike Kickau
15.10.2004 / Main-Echo
Der reinliche Herr Weisgerber legt ein kariertes Taschentuch auf den Stuhl, bevor er sich setzt. Ererbtes Vermögen gibt ihm die Freiheit, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Seine Freiheit und seine Reinlichkeit finden ihre Entsprechung in den Gerichtsverhandlungen, die er beinahe täglich besucht. Herr Weisgerber gehört zu den Darstellern, mit denen die Künstlergruppe Rimini Protokoll das Procedere einer Gerichtsverhandlung durch »Zeugen! Ein Strafkammerspiel« in ein verändertes Licht rückt, Scheinwerferlicht eben.
Wie bereits in vorangegangenen Produktionen ändern Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel den Blick aufs Gewohnte durch die Übertragung ins Theater. Die Bühne des Mousonturms wird zur Spielfläche, auf der die Einzelteile einer Gerichtsverhandlung wie in einem Puzzle zusammengetragen werden. Der Tischler erklärt die verschiedenen Baustile der Verhandlungssäle des Gerichts in Berlin-Moabit und schraubt Bretter zu Richter-, Zeugen- und Angeklagtentischen zusammen. Die Gerichtszeichnerin legt ihre Zeichnungen auf einen Projektor und geht mit einem Brenneisen umher, brandmarkt Holzflächen. Rauch kräuselt sich, es riecht nach verbranntem Holz: Ihre Arbeit beendet die bildlose Anonymität der Angeklagten in den kamerafreien Gerichtssälen.
Brigitte Geier begleitet die Opfer von Gewalttaten bei Gericht. Sie ist eine resolute Frau, die sogar den reinlichen Herrn Weisgerber bremsen kann, wenn seine Reinlichkeitsphantasien gottähnliche Formate annehmen. Eckart Fleischmann, der Strafverteidiger, verteidigt alles – außer Rechtsradikale. Ihm steht ein blutiger Herbst bevor, sagt er, jeden Monat ein Mord, zum Abschluss im Dezember dann ein Doppelmord. Selbst Ilse Nauck, die Schöffin aus Frankfurt an der Oder, die doch eigentlich ganz und gar unprofessionell sein sollte, geht mit pfiffiger Coolness an ihre Aufgabe heran. Alle, die auf der Bühne stehen, sind Profis im Gerichtsverhandlungsbusiness. Sie kennen ihre Rollen, wissen, was von ihnen verlangt wird und bringen sich mit genau der Mischung auf Professionalität und Emotion ein, die eine Gerichtsverhandlung verlangt.
Wie leicht ließe sich in diesem Satz das Wort Gerichtsverhandlung durch den Begriff Theateraufführung ersetzen, ohne dass sich etwas an seiner Wahrhaftigkeit ändern würde! Doch für einen wird es Ernst: den Angeklagten, der bei »Zeugen!« im Glaskasten sitzt und sich per (bissfestem) Mikrofon äußern darf – wenn ihm das Wort erteilt wird. Für den Verteidiger Fleischmann ein Albtraum. Mancher Angeklagte hat sich mit seinem letzten Wort in den Knast geredet. Einen gab es, der sein letztes Wort gründlich nutzte. Er redete an zwei Tagen zwölf Stunden lang. Noch einer nutzt sein letztes Wort: Ein großgewachsener Mann, lockiges Haar, Schnauzbart, der erst spät seinen Platz neben dem Verteidiger einnahm. Ein ehemaliger Techno-DJ sei er, arbeitslos seit der Haftentlassung. Er steht unter Bewährung. Unschuldig verurteilt worden sei er. Behauptet er zumindest. Was auch sonst. Das ist doch der Klassiker im Knast, der unschuldig Verurteilte, oder? Die werden bei Gericht wohl in der Lage sein, die Wahrheit zu erkennen.
Es ist eine Sicherheit, die ins Wanken gerät, als ein Teil der Gerichtsprofis auf der Bühne sich als Schauspieler vorstellt und das zuvor homogene Bild der Realität zerplatzen lässt.