Von Kathrin Schulte-Bunert
10.06.2002 / Stern kultur, Braunschweiger Zeitung, Salzgitter-Zeitung, Wolfsburger Nachrichten
10/06-11:44) - Hannover (dpa) - «Sonde Hannover an Sonde eins - zwischen Uhr und Palme steht eine Vierergruppe - bitte anzapfen.» Eine junge Frau mit dunklen langen Haaren pirscht mit einem Richtmikrofon über den Platz zu den vier Männern. «Hey Sie, nicht so neugierig!» Die empörte Reaktion des abgehörten Passanten tönt rauschend durch die Kopfhörer der
dreißig Personen im zehnten Stock des Kröpcke-Centers.
Sie verfolgen die Szene auf dem Platz unter ihnen gebannt mit Feldstechern. Was sie sehen, ist «Sonde Hannover» - der moderne Beitrag des deutsch-schweizerischen Regie-Teams «Rimini Protokoll» zum Festival Theaterformen. Das Stück erklärt das Stadtbild von Hannover zur Bühne, den Kröpcke in der Innenstadt zum zentralen Schauplatz der Aufführung.
«Dokumentarisches Theater» nennen die Macher diese Form der Schauspielerei. Passanten werden zu Akteuren, Darsteller mit Kopfhörern und Mikrofonen bewegen sich zwischen ihnen. «Theater und Realität sollen sich vermischen», sagt Daniel Wetzel. Der 32-Jährige ist einer der drei Regisseure. Zusammen mit seinen Kollegen Stefan Kaegi und Helgard Haug möchte er den Zuschauer irritieren und ihn gleichzeitig zum begeisterten Voyeur machen. Mit anonymer Distanz soll er die Situation auf dem Platz erforschen. Von oben, aus der Vogelperspektive.
Mit Kopfhörern und Ferngläsern ausgerüstet nimmt das Publikum Platz hinter den Fenstern des Kröpcke-Centers. Die Räume heißen «Zimmermann», «Kanther» und «Schily» - die Namen von drei deutschen Innenministern. Die Zuschauer werden zu ihren Mitarbeitern. Ihnen bleibt nichts verborgen. Durch die Kopfhörer sind Geräusche vom Leben auf dem Platz, Anweisungen an die sechs Schauspieler, aber auch Musik und vorbereitete Kommentare zu hören.
Im Vorfeld der Aufführung hat «Rimini-Protokoll» einen Wirtschaftsexperten, einen Kriminologen, einen Flugbeobachter und einen Kaufhausdetektiv zum Leben auf dem Kröpcke befragt. Ihre Beschreibungen werden dem Zuhörer eingespielt. Der Detektiv beschreibt einen typischen Ladendieb: «Er hat eine leere Tüte dabei. Und seine Augen sprechen Bände.»
Die Zuschauer suchen mit den Feldstechern den Dieb. Doch schon bekommen sie neue Anweisungen. Eine Frauenstimme führt ihren Blick: «Nach links, da ist ein kleiner Baum. Ein Stück nach unten - zu den Telefonzellen. Da rufe ich an.» Ein Freizeichen ertönt, ein Passant hebt verwirrt den Hörer ab. Er wird zum Teil des Stückes, soll einem der Akteure Instruktionen geben: «Hüpf auf dem linken Bein.» Der Schauspieler folgt dem Befehl. Die Zuschauer im Wachturm lachen. «Die Szene ist immer wieder spannend. Keiner weiß, was passiert», sagt Wetzel.
Die Reaktionen der Passanten sind in den Augen von Zuschauerin Heike Berger sowieso das Spannendste: «Einige tun so, als sei alles völlig normal.» Dabei ist in den anderthalb Stunden, die das Stück dauert, nur Weniges normal. Eine Schauspielerin fällt schreiend zu Boden, ein Akteur springt aus dem Rollstuhl und beginnt zu singen.
Die Zuschauer sind begeistert von dem «etwas anderen» Theaterstück, aber auch ein wenig erschrocken. «Ich hab fast schon ein schlechtes Gewissen», sagt Berger. Warum? «Weil ich richtig Spaß daran hatte, Voyeur zu sein.»