Von Kolumne von Eva-Elisabeth Fischer
17.10.2018 / sueddeutsche-zeitung
Es ist schon komisch, dass PR-Fuzzis für meist analoge Events immer noch glauben, mit absurden Superlativen Karten zu verkaufen. Wo doch inzwischen alle wissen sollten, dass Masse nicht gleich Klasse ist. Just purzelt also eine Meldung von der Datenbahn mit der Ansage, das Datum für den "größten Schwanensee der Welt" zu retten (save the date!), den 1. Dezember, wenn 48 Schwäne über die Bühne des Theaters am Potsdamer Platz in Berlin in zierlichen Arabesken hüpfen - zweimal mehr als im Bolschoi!!! "Diese Produktion des Shanghai Ballett wird dem Slogan ,Mit mehr Schwänen, als man zählen kann' mehr als gerecht", steht dazu auf der Homepage zu lesen. Da fragt man sich, ob die in Shanghai, dem Exerzierplatz des Schwanen-Corps, nicht mal bis 48 zählen können. Oder ob dem Ballettpublikum generell Rechenschwäche unterstellt wird, da man es ja auch für bescheuert genug hält, die "Schwanensee"-Qualität an der Menge der auf Zehntelsekunden und Millimeter genau synchron gedrillten Ballerinen zu messen. Tänzer und Tänzerinnen selbst, so das landläufige Vorurteil, können ja sowieso maximal bis acht mit dem "Unde" dazwischen zählen: einsundezweiundedreiundevier. Dies eine von Generation zu Generation überlieferte säuerliche Witzelei über das geistige Potenzial derer, die von Kindheit an der Stange ihr Ich rausschwitzen.
Mit Gastspielen dieser Art wird man, im T-Shirt am PC werkelnd und von der goldenen Herbstsonne geblendet, mit der Nase auf die kommende "stade Zeit" gestoßen, der nach Meinung von Großveranstaltern dringend mit Überwältigung aller Art begegnet werden muss. Dabei sind es doch oft eher die kleinen, die intimen Bühnenerlebnisse, die einen allen halbscharigen bis niederschmetternd inhaltsleeren Aufführungen zum Trotz immer wieder an den Ort jahrzehntelanger Sucht, ins Theater treiben. Zum Beispiel Unheimliches Tal/Uncanny Valley. Man sollte also unbedingt am 30. Oktober um eine Restkarte vor der Kammer 3 in der Münchner Hildegardstraße anstehen. Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) hat das Solo des eins zu eins nachgebildeten und über alle menschlichen Unbilden erhabene Roboter-Alter-Ego des Autors Thomas Melle inszeniert. Dieses denkt laut mit der Stimme desselben unter anderem darüber nach, dass dem digitalen Doppelgänger die eigenen bipolaren Schübe erspart bleiben, vor denen der Mensch Melle sich vor allem bei Lesungen fürchtet.
Fasziniert lauschend und schauend, vergisst man, dass der, der da vorne sitzt und mit der original Melle-Stimme spricht, eine Puppe ist. Man entwickelt Mitgefühle für sie und fragt sich, wie es der Mann so lang mit dem unnatürlich rechtwinkelig übergeschlagenen Bein aushalten kann. Der Kunst-Melle verschmilzt emotional untrennbar mit dem Melle aus Fleisch und Blut. Und man erinnert sich angesichts der Selbsttäuschung daran, wie die beste Freundin vor 20 Jahren um ihr Tamagotchi bangte, wenn sie einmal vergessen hatte, das digitale Tierchen pünktlich zu füttern. Umso mehr dauert einen so ein Schwanenmeer automatengleicher Ballerinen. Aber solchen Missbrauch hat ja schon weiland das Tanztheater aufgespießt.