Von Stefan Fischer
23.07.2024 / Süddeutsche Zeitung
Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Künstlerkollektiv „Rimini Protokoll“ ist in ihrer dokumentarischen Kunst, egal ob für die Bühne oder fürs Radio, nicht daran gelegen, die Wirklichkeit zu imitieren oder zu simulieren. Sie gehen stets noch einen Schritt weiter: Es ist die Wirklichkeit selbst, die sie in ihre Werke hineinholen. Sie konstruieren für ihre Theaterinszenierungen und ihre Hörspiele also nicht eine Realität, jedenfalls nicht ausschließlich. Sondern bedienen sich gleich des Originals. Und machen daraus wieder Kunst.
Was ist das aber für eine Wirklichkeit, die sie in ihrem neuen Hörspiel Prinzip Held* für DeutschlandfunkKultur künstlerisch besichtigen? Oder anders: Wie viel Realität steckt in einer Kopfgeburt, einer Idee wie der des Heldentums? Prinzip Held* beginnt mit der Aufforderung, sich hinzustellen wie eines der Standbilder eines alten Kriegshelden, die oft auf ein Schwert gestützt sind. Hat man selbst nun kein Schwert zur Hand – man würde umfallen. Heldentum ist Pose, das ist die eine Sache. Und die andere: Längst nicht jeder ist dazu imstande, sie einzunehmen. Wo es eine Pose gibt, braucht es überdies ein Publikum. „Ohne kann es keine Helden geben.“
Das führt zu den neun Kategorien, in die sich die Konzeption von Helden unterteilen lässt – über die Zeiten und Kulturen hinweg. Zu diesem Ergebnis jedenfalls sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Freiburg gelangt, die zwölf Jahre lang Grundlagenforschung zum Heroischen betrieben haben. Demnach sind, in unterschiedlicher Gewichtung, unabdingbar: Vorbild, Grenzüberschreitung, Maskulinität, Polarisierung, Einsatz, Medialisierung, Publikum, Kampf, Handlungsmacht. Selbst bei Heldinnen geht es um Maskulinität, und sei es durch die Negierung. Die Zeitspanne im Hörspiel reicht von A wie Antigone bis Z wie Zuckerberg.
Auf der Basis dieser Forschungsarbeit haben Haug und Wetzel zweierlei realisiert: die Ausstellung Prinzip Held* im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Berlin-Gatow. Und das gleichnamige Hörspiel, dessen Fundament zahlreiche Interviews mit den Wissenschaftlern bilden. Wie sie diese Aussagen und Anekdotenerzählungen ineinander verschränken und verhaken – einmal treten die Forschenden als antiker Chor auf –, wie sie den Stoff rhythmisieren und dramaturgisch klug entwickeln, wie sie Brüche einbauen und immer wieder auch Irritationen provozieren: Das unterscheidet Prinzip Held* von einem Radiofeature oder auch einem Hörfunk-Essay, auch wenn die Grenzen fließend sind.
Spannend sind vor allem die Passagen, in denen es um Heldendämmerungen geht oder um Gegenmodelle: um Statuenstürze zum Beispiel, die für sich genommen aber auch ein Publikum benötigen, um symbolisch wirksam zu sein. Und um Deserteure, die sich dem Heldentum im militärischen Kontext verweigern. Und kann jemand wie Edward Snowden als Held angesehen werden? Da er, am Computer sitzend, das Athletische des Heldentums konterkariert?
Ist eine Gesellschaft ohne Heldenfiguren überhaupt denkbar? Nun, vorstellen kann man sich eine solche womöglich. Aber Realität geworden ist noch nie eine, jedenfalls nicht dauerhaft. Ein schöner Gedanke, gegen Ende des Hörspiels: Mikroorganismen und Pilze sind als Systeme extrem egalitär organisiert. Denkbar, dass sie die Menschheit überdauern. Womöglich ganz ohne Helden.