Von Frank Weigand
30.11.2001 / Junge Welt
Berlin im Winter 1963. Seit 28 Monaten steht die Mauer, es herrscht absolute Kontaktsperre. Um den auseinandergerissenen Familien für kurze Zeit ein Wiedersehen zu ermöglichen, ein Wiedersehen zu ermöglichen, einigen sich die beiden Regierungen nach zähem Ringen auf ein Experiment: 18 Tage lang dürfen Bewohner des Westteils in den Osten. Der Ansturm ist unglaublich. Kontrollstellen werden eingerichtet, Formulare ausgegeben, ein monströser Verwaltungsapparat setzt sich in Bewegung. Zehntausende von Menschen gilt es abzufertigen, Tausende von Sonderfällen zu regeln. Dokumentiert ist dieser surreale Verwaltungsalptraum auf den Archivbändern des RIAS. In einer fast ganztägigen „Sondersendung zu Passierscheinfragen“ versuchen die Moderatoren, Antworten auf die dringendsten Probleme der Grenzgänger zu finden. Die eigens eingerichtete Sondernummer 236 lief rund um die Uhr heiß.
Helgard Haug und Daniel Wetzel haben dieses Material zur Basis eines Theaterabends gemacht. Auf einer U-förmigen Bühne rund um das Publikum, das auf Ikea-Drehstühlen platziert wird, veranstalten die drei Schauspieler eine Unterrichtsstunde. Wie verunsicherte Beamte taumeln sie durch das Szenario aus Wartenummernautomat und Schwarzweißfernsehern – um zwischendurch immer wieder Kurzvorträge zu den unterschiedlichsten Formen der Organisation von Bedürfnissen zu halten. Im weitesten Sinne geht es um die Frage „Wie kann ich möglichst viele Konsumenten oder Reisende in möglichst kurzer Zeit durch eine Maschinerie schleusen und dabei maximalen Gewinn machen? Wetzel und Haug lassen die Zeigefinger stecken. „Apparat Berlin“ ist Lehrtheater im besten Sinne: Man amüsiert sich köstlich, das Entsetzen kommt erst auf dem Heimweg.