Von Günther Hennecke
07.11.2006 / Neue Osnabrücker Zeitung
Es ist ein außergewöhnlicher Theaterabend. Die auf der Bühne agieren, sind Laien. Doch da sie kein Drama aufführen, sondern ihr eigenes Leben reflektieren, wirken sie authentischer als Leben und Kunst zusammen. Die Bühne wird Abbild der Wirklichkeit.
Im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels blicken acht unterschiedliche Menschen zwischen 20 und 65, Wissenschaftler und Autoren, Journalisten und Germanisten, Elektriker, Telefonisten und Sozialarbeiter, auf ihr Leben zurück.
Alles unter dem Blickwinkel: Was taten sie im Sozialismus, wie haben sie ihn im Würgegriff der Diktaturen erlebt, wie gerieren sie sich nun im Kapitalismus. Doch das wäre noch nichts Neues, wären ihre Erfahrungen nicht alle in Beziehung zu Karl Marx gesetzt: "Das Kapital, Erster Band" begleitet wie ein roter Faden ihre Rückbesinnung. Darsteller ihrer selbst sind sie, von der Bühne des Lebens in die Künstlichkeit des Theaters gewechselt.
Das vermeintliche Wagnis gelingt verblüffend leicht. Nun sind die Macher längst erfolgreiche Tabu-Brecher. Helgard Haug und Daniel Wetzel, unter dem Namen "Rimini Protokoll" agierend, stehen für theatralische Spurensuche. Mit "Deadline" und "Wallenstein" waren sie bereits zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Auch da standen keine Schauspieler auf der Bühne, auch da wurde kein Stück gespielt. Aus Gesprächen mit vielen Menschen, "Experten" fürs eigene Leben, wuchsen ihre Stoffe. So auch fürs "Kapital", das die Düsseldorfer in Koproduktion mit dem HAU Berlin, dem Zürcher Schauspielhaus und dem schauspielfrankfurt als Uraufführung herausbrachten.
Im Zentrum, vor einem die Bühnenbreite beherrschenden Regal, in dem sich Bücher und Menschen wie Ausstellungsobjekte präsentieren, steht einer, der das alles nur erahnen kann: der blinde Christian Spremberg, 41. Alte Platten sind seine Domäne, Ironie und ungebrochene Lebensfreude sein Lebensmotor. Er liest auf seine Weise Passagen aus dem "Kapital" - in Blindenschrift.Viel Theorie und Beispiele fliegen uns um die Ohren, von Gewinnmaximierung ist die Rede. Was kaum jemand je las. Franziska Zwerg, 37, Jelzin-Biografin, erzählt aus ihrem Leben. Wissenschaftlich versierter Guide durch das Marx'sche "Kapital"-Gewirr ist Thomas Kuczynski, 62, heute freier Publizist, von 1988 bis 1991 Direktor der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er weiß alles, theoretisch - und legt den roten Faden durchs Gespinst der Ideologie.Ulf Mailänder schließlich, 50, Biograf des Anlageberaters Jürgen Harksen, der vom Sonderschüler zum Anlageberater auf- und in die Zelle abstieg, skizziert den Milliardär, als sei's sein eigenes Leben. Sie alle lassen deutlich werden: Mit dem "Kapital" ist es wie mit der Bibel und "Mein Kampf": Alle reden drüber, keiner kennt die Inhalte wirklich. So laufen alle ehemaligen Aktivisten, Mitläufer und Leidende aus dem Ideologie-Ruder und enden - im Kapitalismus.
Wer nun meint, dass die Rimini-Macher mitsamt den Akteuren ins Dröge und Lehrhafte rutschen, kennt nicht die Unmittelbarkeit und den Charme dieser locker agierenden Truppe. Jubelnder Applaus.
© Neue OZ online 2006
Alle Rechte vorbehalten.
Diesen Artikel finden Sie unter:
http://www.neue-oz.de/information/noz_print/feuilleton/15132870.html
Ressort / Ausgabe: Feuilleton