Von Christopher Wurmdobler
13.12.2006 / Falter
Und jetzt wir fliegen", tönt es in gebrochenem Deutsch aus den Bordlautsprechern. "Wir wollen Rock 'n' Roll!", ruft die zweite Stimme aus dem Cockpit. Der Lkw beschleunigt, und mit 110 Stundenkilometern rast das Publikum über die Autobahn, die Blicke durch Glasscheiben seitlich des Frachtraums zum vorüberfliegenden Mittelstreifen gerichtet. Aus den Lautsprechern kreischen AC/DC mittlerweile "Highway to Hell", da überholt ein Pkw den Truck: Auf dem Beifahrersitz eine Frau mit blondem Haar, die ihren Kopf im Rhythmus bewegt. Headbanging nachts irgendwo vor der großen Stadt - Zufall oder Inszenierung? In Stefan Kaegis gefeiertem Dokutheater "Cargo Sofia" weiß man das nie so ganz genau.
Auf einer ausgedehnten Tour zwischen Berlin und Belgrad ging die "europäische Lastkraftwagenfahrt" zuletzt durch Frankfurt am Main (da war der Falter mit an Bord). Jetzt bringt das Tanzquartier das Stück mit dem Truck nach Wien. Bei "Cargo Sofia - Wien", der zwölften Station des Projekts, legen die Zuschauer dann virtuell Tausende Kilometer zwischen Sofia und der österreichischen Hauptstadt zurück. Tatsächlich dauert die Reise an Bord des eigens adaptierten Lkws zwei Stunden, in denen das Theaterpublikum größtenteils wohl zum ersten Mal mit Wiens Güter-und Frachtleben Bekanntschaft machen wird. Und mit dem Alltag der "Kings of the Road" - wobei das echte Truckerleben natürlich nicht so wahnsinnig königlich ist.
Der Schweizer Kaegi und seine Kollegen vom Kollektiv Rimini Protokoll ließen in Wien schon Bestatter vom Tod und ehemalige Botschafter von der hohen Kunst der Diplomatie erzählen ("Deadline" und "Schwarzenbergplatz" im Kasino) oder passionierte Modelleisenbahner von der großen Welt im Kleinen ("Mnemopark" im Tanzquartier). Auf Festivals haben die Riminis Themengebiete wie Justiz oder Arbeitslosigkeit beackert, Zuschauer telefonierten live mit Menschen in Indien, und zuletzt erforschte man am Schauspielhaus Zürich Herzensangelegenheiten zwischen Spenderherz und Liebesglück im Internet: Dokus im Theater mit echten Menschen und echten Geschichten statt nur so tun als ob; Experten, Betroffene und Auskenner statt Schauspieler, sehr aufregend.
Mit seinem neuen Projekt treibt Herr Kaegi das System des Dokudramas auf die Spitze: In "Cargo Sofia" reisen 47 Zuschauer quer durch Europa. In der Fahrerkabine des zehn Jahre alten Volvo sitzen zwei erfahrene bulgarische Trucker, die von ihrem Alltag hinterm Steuer berichten. Und je länger die Reise dauert, auch von ihren Familien zu Hause in Sofia. Gefunden hat Kaegi die Berufskraftfahrer Ventzislav Borissov, 53, und Nedjalko Nedjalkov, 54, per Inserat. Dass sie bei diesem Job nicht Kunstgegenstände von A nach B chauffieren, sondern Hauptdarsteller eines Theaterabends sind, dass ihre Biografien Teil des Ganzen werden, dass es auch um Selbstreflexion geht, wurde erst nach vielen Gesprächen klar.
Zusätzlich zum Blick auf die Straße gibt es im mobilen Zuschauerraum auch Videoeinspielungen: Landschaften von Sofia bis zum Zielort ziehen vorüber. Muss der Lkw wegen einer roten Ampel anhalten, stoppt auch das Video, die präzise eingespielten Sounds stagnieren im Loop. Wir sehen einen Wirtschaftskrimi um ein schwäbisches Frachtunternehmen, oder eine Livekamera berichtet aus der Fahrerkabine. Die Fahrer befragen sich gegenseitig, nehmen Dinge am Straßenrand zum Anlass für Spekulationen, Weihnachtsdekorationen am Plattenbau oder zum Beispiel einen Porsche-Händler ("Was glaubst du, wie lange muss ich arbeiten, bis ich mir so ein Auto leisten kann?").
Cargo Sofia" hat stets sehr viel mit der Stadt zu tun, in der es stattfindet. Wochen vor der Premiere recherchiert Kaegi vor Ort. "Die Theater bieten einem schon Hilfe an, aber die Leute kennen sich meistens wenig aus." Lieber schaut er bei Google Earth nach, wo in der jeweiligen Stadt die Trucks stehen, und fragt dann bei den Lkw-Fahrern direkt nach.
Die Reise im Theatertruck ist witzig und interessant. Für ein Playboy-Heft, erfährt man, gibt's im Iran den Tank voll Diesel, an den südosteuropäischen Grenzen braucht's stangenweise Zigaretten als Bakschisch, bulgarische Lkw-Fahrer verdienen gerade mal fünf Cent pro gefahrenen Kilometer. Es geht aber nicht nur um den Truckeralltag, sondern auch um Europa, um Grenzen, Unterschiede und die Wirtschaft. Man fährt Cargoterminals an oder Laderampen von Frachtunternehmen, und die Experten dort erklären den Zuschauern ihr Metier. Einmal geht's sogar in die Lkw-Waschanlage! Zufälliges wird zum szenischen Readymade, möglicherweise wecken Borissov und Nedjalkov auf einem Truckerparkplatz einen schlafenden Kollegen und interviewen den sichtlich Überraschten. Vieles ist aber auch inszeniert. So wie die geheimnisvolle Sängerin am Straßenrand, der man immer wieder begegnet und die in jeder Stadt eine andere ist. Manchmal ist die Truckerdoku auch berührend. Etwa wenn die beiden Fahrer Fotos von ihren Familien in die Bordkamera halten. Zwei Wochen und länger sind sie normalerweise unterwegs, Proviant nehmen sie sich von zu Hause mit, Konservenbüchsen und Salami.
Derzeit nehmen Borissov und Nedjalkov keine anderen Jobs an, 47 Zuschauer sind jetzt ihre kostbare Fracht. Wobei ein Fahrer bereits ausgewechselt wurde. "Dem wurden die roten Ampeln zu viel", erzählt Kaegi. "Wenn er Menschen durch Städte fahren wolle, wäre er Taxifahrer geworden, war sein Argument."
"Cargo Sofia - Wien": vom 19. bis 22.12., täglich 18.30 und 21 Uhr, Abfahrt Busparkplatz Franz-Josefs-Kai. Reservierung erforderlich: Tanzquartier Wien, Tel. 581 35 91 oder www.tqw.at