Von Berliner Zeitung
14.03.2002 / Berliner Zeitung
Einst sind sie in Prenzlauer Berg sicher des Öfteren aneinander vorbeigeschlappt, ohne sich zu bemerken: der eine Würden und Bedenken tragend, der andere gedanklich eingeflochten in visionäre dramaturgische Verwicklungen. Wolfgang Thierse, wohnhaft in der Kollwitzstraße, und Matthias Lilienthal, Castorfs Ex-Dramaturg. Sie hätten sich bestimmt gut verstanden, eine sympathische Vergeistigtheit, die auf Kosten der Haartracht geht, haben sie jedenfalls gemeinsam. Leider sind sie nun als Konfliktgegner aufeinandergetroffen.
Lilienthal, der inzwischen zum Programmdirektor des Festivals „Theater der Welt“ geworden ist, sieht seine künstlerische Freiheit von Thierse und Thierse sieht das Ansehen seines Hohen Hauses von Lilienthal beeinträchtigt. Für so viele Sorgen sorgt das Projekt "Das Volk vertritt die Volksvertreter": Ende Juni soll im Bonner Bundestags-Plenarsaal (Bonn war einmal Regierungsstadt) eine Berliner Parlamentssitzung von Laienschauspielern simultandebattiert werden. Die über Kopfhörer eingespielten Redebeiträge werden unverzüglich nachgesprochen - Zwischenrufe nachzwischengerufen, Hohngelächter nachhohngelacht, Anschuldigungen nachangeschuldigt. Das sei ein Plädoyer für die Demokratie, behauptet Lilienthal. Thierse hat das juristische Recht, über die Nutzung des Bonner Hauses mitzubestimmen, die Stadt Bonn respektierte das Veto und bietet einen anderen Ort an. Womit die Debattenkopie an Symbolkraft verliert.
Thierse hat mit seinen Befürchtungen erreicht, dass man über das Ansehen des Hohen Hauses ins Nachgrübeln gerät. Ist es wirklich schon so wacklig, dass bei dieser Aktion Einsturzgefahr in Verzug kommt? Bisher erwies sich das Ansehen als so resistent, dass es sich kabarettistische und theatralische Einlagen aus den eigenen Reihen durchaus erlauben konnte. Unüberbietbare. Unvergessliche. Die Original-Akteure wenden routiniert ihre darstellerischen Mittel an, wissen mit Stand- und Spielbein umzugehen und kennen jeden Redepult-Stützgriff. Ihr Repertoire ist unerschöpflich wie der Stoff einer Daily Soap, mit schlafwandlerischer Sicherheit setzen sie Entrüstungs-, Verulkungs- und Bekundungsmodule in den Redefluss, wissen ihre Glaubhaftigkeit mit Körpersprachkraft zu zertifizieren.
Wir meinen, Herr Thierse hat nichts zu befürchten. Seine Mannen werden aus dem Vergleich mit den Bonner Laien gewiss als die Rhetorikmeister hervorgehen, als welche sie uns aus dem Phönixfenster anstrahlen. Und wenn es knapp wird: Es gibt für die Nachschulung genügend arbeitslose Schauspieler, die sich ein Zubrot mit entsprechenden Coachings verdienen.