Von Daniel Völzke
18.06.2005 / Der Tagesspiegel
Die Geschichte von der Intrige gegen den Mannheimer CDU-Stadtrat Sven Otto ist mittelmäßig aufregend: Bei einer Wahl zum Kämmerer hatten ihm einige Parteigenossen heimlich die Gefolgschaft versagt. Hochgradig aufregend hingegen, dass Otto von dieser Enttäuschung auf der Bühne erzählt. Zusammen mit neun anderen "Experten der Wirklichkeit" war er im "Wallenstein" des Künstlerkollektivs Rimini Protokoll bei den 13. Schillertagen am Nationaltheater Mannheim zu sehen. Während Friedrich Dürrenmatt befand, dass sich aus Hitler und Stalin längst keine Wallensteine mehr machen ließen, dürfen in der Stadt, in der Schiller mit der Uraufführung der "Räubern" seinen ersten Triumph feierte, sogar Lokalpolitiker den Feldherrenvergleich nicht scheuen.
Das Festivalmotto "Vorsicht Freiheit!" übertönt die Verzagtheit, die das Schillerjahr 2005 durchzieht: Welche Bedeutung hat der Dichter eigentlich noch? In Mannheim geht man wie selbstverständlich mit seinem Erbe um. Zur Beweihräucherung geriet allerdings die Eröffnungsinszenierung "Wilhelm Tell": Bei Thomas Langhoff darf keine Ironie das Pathos des Stücks brechen, keine Schattierung sich auf die urige Gemütlichkeit legen, mit der Schiller das Schweizer Volk zeichnet. Zwischen den stilisierten Zacken der Alpen, die sich zu einer Zwingburg zusammenschieben, tollen die Liebenden wie Katzen herum, schaut der Fischer als ein Käpt'n Blaubär auf den See hinaus, schwenkt das harmlose Volk aus einig Brüdern die Fähnchen. Der Landvogt in Herrenreiteruniform hingegen verpestet mit seinem Motorrad die schöne Alpenluft.
Um wie vieles zarter und vielschichtiger präsentieren Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Rimini Protokoll ihre Wallensteine. Sie konzentrieren sich auf einzelne Motive und Konstellationen des dramatischen Gedichts und finden Menschen, deren Lebensgeschichte Vergleiche mit Dramenhandlung und -figuren zulassen. Im sporthallenähnlichen Probenzentrum Neckarau berichten zwei Vietnam-Veteranen, ein gescheiterter Offiziersanwärter und ein ehemaliger Flakhelfer von der Gewalt der Schlachten, wie sie auch Schillers Wallenstein erlebt, erzeugt und beklagt. Wenn die Leiterin einer Mannheimer "Seitensprung- Agentur" von ihrem ersten Kunden erzählt oder eine Astrologin Horoskope ihrer Mitspieler erstellt - hier erfüllt sich ganz unpathetisch Schillers Prophezeiung, dass alle Menschen Brüder werden. Ob Politiker oder Kellner, ob Polizeibeamter oder arbeitsloser Schillerfan: Alle wursteln sich durchs Leben und sind dem Schicksal untertan. Aus dem "Wallenstein" werden nur ein paar Zeilen zitiert - interessanter ist die Gegenwart, das echte Leben echter Menschen.
Dem dokumentarischen Theater von Haug/Wetzel gelingt es mit diesem radikalen Versuch, Schiller an der Gegenwart zu messen. Die Antworten werden außerhalb des Theaters gesucht, innerhalb des Theaters sichtbar gemacht. Bei den Schillertagen waren oft diejenigen der 120 Veranstaltungen aufregend, die sich - ganz im Sinne des Festivalmottos - Freiheiten in ihrem Bezug zu Schiller herausnehmen. So wie eine Performance der britischen Lone Twins, die eine dreiminütige Tonaufnahme von der Rütli- Wiese in die Mannheimer Nacht entließen, oder die Gruppe Lunatiks mit dem Fahndungsspiel "Polizey", das sich auf ein Dramenfragment Schillers bezieht und im Streifenwagen aufgeführt wurde. Daniel Völzke