Unter der Maske des Managers

In „Staat 1–4“ von Rimini Protokoll werden die Zuschauer zu Akteuren auf den Großbaustellen der (Post-)Demokratie.

Von Christoph Leibold

19.02.2018 / Theater der Zeit

Theater der Zeit

Helgard Haug und Stefan Kaegi im Gespräch mit Christoph Leibold.

Helgard Haug, Stefan Kaegi, in „Staat 1–4“ setzen Sie sich mit Phänomenen der Postdemokratie auseinander. Dabei ging es um global agierende Geheimdienste (Staat 1); um Großbaustellen als Modell der globalisierten Gesellschaft (Staat 2); um Prozesse der Meinungsbildung im digitalen Zeitalter (Staat 3); sowie um das Weltwirtschaftsforum in Davos (Staat 4). Wie kam es zu dieser Auswahl an Szenarien?

Helgard Haug: Wir haben die Stücke ortsspezifisch entwickelt. Wir wollten die Phänomene an den Orten verankern, wo die Projekte erarbeitet wurden. „Top Secret International (Staat 1)“ entstand, zum Beispiel, in München, von dort ist es nicht weit zum ehemaligen Sitz des BND in Pullach. Am Flughafen Zürich steigen die VIPs von ihren Privatjets um in die Hubschrauber, die sie nach Davos bringen. Und so gibt es für alle Abende Verbindungen zwischen dem Ort der Entstehung und dem Thema. Gleichzeitig versuchen wir die Dinge immer so zu erzählen, dass sie eine Gültigkeit über den Entstehungsort hinaus haben.
Stefan Kaegi: Und natürlich wären noch andere Szenarien denkbar.

Der Staat sollte – zumindest in Ländern wie den EU-Staaten – Garant für den Erhalt der Demokratie sein. Wie ist in dem Zusammenhang der Titel „Staat“ zu verstehen, wenn es doch um Postdemokratie geht. Ironisch?

Kaegi: Wir porträtieren den Staat, wie er sich transformiert. Er entwickelt sich hin zur Postdemokratie …
Haug: … deshalb sind das keine Gegensätze: Staat und Postdemokratie.
Kaegi: Unlängst in Davos beim echten Weltwirtschaftsforum hat man beobachten können, wie sich Staatsmänner bei den CEOs der wichtigen Wirtschaftsunternehmen geradezu bewerben, damit die in ihren Ländern investieren. Da wurde deutlich sichtbar, dass nicht mehr der Staat die Regeln setzt. Von daher: keine Ironie. Eher eine Zustandsbeschreibung.
Haug: Uns interessiert die Frage, wie unterschiedliche Mächte miteinander verwoben sind. Geheimdienst und Demokratie schließen sich, wenn man es genau nimmt, gegenseitig aus – dennoch benötigt auch ein demokratischer Staat einen Geheimdienst, er setzt ihn ein und beauftragt ihn sogar. Doch inwieweit hat der Staat das noch unter Kontrolle? Wo kooperiert der Staat mit konkurrierenden Kräften? Und wie wirken nicht demokratisch legitimierte Kräfte, wie die Wirtschaft, auf die Politik ein? Wer dominiert wen?<
Kaegi: Bei der Recherche zu „Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)“ haben uns Städteplaner gesagt, sie hätten im Planungsamt gar nicht mehr die Ressourcen, die großen Masterpläne für die Zukunftsentwicklung ihrer Stadt selbst zu entwickeln. Deshalb würden Konzerne, die später Auftragnehmer werden, ohne öffentlichen Auftrag Ideen entwickeln, die dann die Stadt mehr oder weniger so übernimmt. Man sieht an diesem Beispiel gut, wie der Staat eine Domäne aufgibt, die dann in den privaten Sektor hinüberwandert.

Das Theater dagegen ist ein öffentlicher Raum, der demokratischen Austausch ermöglicht …

Haug: Wir begreifen das Theater als Ort, an dem man unterschiedliche Perspektiven anbieten kann und Menschen zuhört, ohne sofort zu werten. Das ist nicht immer einfach. Uns ist es aber wichtig, nicht eine vorproduzierte Message oder Moral zu versenden. Vielmehr wollen wir den Zuschauern die Gelegenheit bieten, unterschiedliche Positionen kennenzulernen, auch solche, die sie wahrscheinlich eher ablehnen. Was macht das mit einem selbst, wenn man sich in so eine Person, in so ein Leben hineindenkt?

Diesen Verzicht auf eine eindeutige Botschaft wollen Sie vermutlich nicht mit Haltungslosigkeit verwechselt wissen. 

Kaegi: Sicher nicht. Nur ist es eben eine ganz andere Haltung als die Bevormundungsstrategie eines Theaters, das sich als moralische Anstalt begreift und von der Bühne herunter eine Meinung vorzuschreiben versucht. Vielleicht sind wir mit unserer Haltung dem Journalisten näher als dem ideologischen Regisseur.
Haug: Die große Herausforderung ist, Protagonisten zu finden, die bereit sind, ihre Meinung auf der Bühne zu vertreten, von der sie ganz genau wissen, dass sie erst mal nicht im Konsens mit großen Teilen des Theaterpublikums steht. Dass wir diese getrennten Welten aufbrechen, das ist an sich schon eine politische Haltung; und dass wir die Zuschauer dazu bringen, jemandem zuzuhören, der aus einer Überzeugung heraus spricht, die sie eher nicht teilen. Andersherum gilt das natürlich auch!

Wie gewinnen Sie diese Menschen, die in Ihren Stücken Erfahrungen und Ansichten mit dem Publikum teilen? Wie gelingt das vor allem bei solchen Menschen, die damit rechnen müssen, dass sie mit ihren Haltungen im Theater auf Widerspruch stoßen?

Kaegi: Menschen mit Positionen, die einem besonders fremd sind, unterstellt man gern, sie wären nicht dialogbereit. Tatsächlich ist es nicht leicht, zum Beispiel mit einem Luftwaffenchef oder einem Lobbyisten ins Gespräch zu kommen, wenn man sagt, dass man vom Haus der Kulturen der Welt oder dem Schauspielhaus Zürich anruft. Das Theater hat offenbar einen gewissen Stallgeruch, der dazu führt, dass viele Leute erst mal Gefahr wittern. Aber es gibt eben auch solche, die nicht sofort auflegen. Wenn man mit denen ins Gespräch kommt, merkt man schnell, dass es auf allen Seiten der Gesellschaft ein Bedürfnis gibt, über das eigene Denken und Handeln nachzudenken; und über deren Konsequenzen für die anderen und einen selbst.
Haug: Wir verbringen viel Zeit mit unseren Protagonisten, und die untereinander auch. Dabei lernen alle die Haltungen der anderen kennen. Wir versuchen dann, einen Abend zu entwickeln, an dem die jeweiligen Haltungen sichtbar werden und sich hart aneinander stoßen. Es geht um den Widerspruch, um das Aufzeigen eines Dilemmas. Schnelle Lösungen lassen sich da kaum finden.

In „Top Secret“ muss sich der Zuschauer seine Haltung grob gesagt zwischen zwei Positionen suchen: Verwandeln die Geheimdienste unsere Gesellschaft in einen Überwachungsstaat? Oder leisten sie notwendige Aufklärungsarbeit, die für unsere Sicherheit unerlässlich ist? Wenn dieser Konflikt nun aber an einem Abend diskutiert wird, der sich erklärtermaßen mit Phänomenen der Postdemokratie befasst, dann muss doch eigentlich jedem Geheimdienstler klar sein, dass Sie als Theatermacher seine Arbeit eher als Gefahr für die Demokratie sehen. Dass diese Leute trotzdem mitmachen, ist schon verwunderlich.

Kaegi: Nicht unbedingt. Gerhard Schindler, der ehemalige BND-Präsident, der in „Staat 1“ zu Wort kommt, hat erstaunlich offen beschrieben, wie er selbst in dieser Zwickmühle steckt …
Haug: … es gibt oft ein sehr hohes Reflexionsniveau, das die Leute selbst mitbringen. Und wir bieten ihnen die Möglichkeit, sich zu artikulieren und ein differenzierteres Bild von sich zu zeichnen als das, das in der Öffentlichkeit von ihnen vorherrscht.

In „Staat 1“ navigiert ein Audioguide die Theaterbesucher durch ein Museum. In „Staat 3“ sind sie mittels einer Smartphone-App permanent zu Abstimmungen aufgerufen. Auch die beiden anderen Produktionen sind interaktiv angelegt. Solche Theaterformen werden oft als Mitmachtheater bezeichnet. Wahlweise ist von „Partizipation“ oder „Immersion“ die Rede. Welchen Begriff bevorzugen Sie? 

Haug: Unabhängig von den Begriffen geht es darum, das Publikum aus der reinen Konsumentenhaltung zu befreien. „Immersion“ ist ein neues Modewort. Das klingt auf jeden Fall besser als Mitmachtheater, weil das viele mit einem Theater verbinden, bei dem man auf die Bühne gezerrt wird und sich zur Freude der anderen zum Deppen macht. Wir wollen die Zuschauer aber nicht bloßstellen, sondern legen einiges an Verantwortung in ihre Hände und bieten ihnen eine aktive Rolle innerhalb des Stücks an. In „Staat 4“ etwa bekommt jeder Zuschauer die Identität eines Managers übertragen. In diese Rolle kann man sich spielerisch hineindenken. Man kann die Charaktermaske aufsetzen und agieren, sich aber eben auch immer dahinter verstecken. Wir wollen das Publikum mitnehmen in ein Gedankenexperiment.
Kaegi: Dabei sind die Zuschauer Beobachter und Teil des Experiments zugleich.

Wobei es schon um mehr geht, als sich nur gegenseitig zu beobachten. Auf der Großbaustelle von „Staat 2“ muss man sich einen Helm aufsetzen. In „Staat 1“ bekommt man dauernd Fragen gestellt, deren Antworten darüber entscheiden, wo man als Nächstes hingeschickt wird. Aber man hat kaum Zeit, über seine Antworten nachzudenken. Ermöglicht das wirklich ein tieferes Erleben und Eintauchen ins Thema? Oder lenkt es nicht eher davon ab? 

Kaegi: Ich glaube, das ist ein Problem von Theaterkritikern …
… na, danke!
Kaegi: … nein, wirklich! Dieser Einwand kommt oft von beruflich theatersozialisierten Menschen. Wir haben viel Publikum, das sonst kaum ins Theater geht. Die stören sich nie an der Form von Interaktion, zu der wir sie einladen. Bei „Staat 2“ hatte das Theater zuerst große Bedenken, dass gerade ältere Zuschauer sich weigern könnten, einen Helm aufzusetzen. Aber bei den Vorstellungen haben uns dann auch ältere Semester die Bauhelme geradezu aus den Händen gerissen. Es ist ein klassisches Kritikerproblem: die Distanz wahren zu wollen, um das System von außen beobachten zu können.

Das mag sein. Aber das eigentliche Problem liegt trotzdem woanders und hat nichts damit zu tun, ob man als Zuschauer theatersozialisiert ist oder nicht. Die Aufmerksamkeit, die die Interaktion fordert, lenkt mitunter von den Inhalten ab. Mir ging es in „Staat 1“ so, dass ich das Gefühl hatte, mich nicht auf die Aussagen der „Experten des Alltags“ konzentrieren zu können, weil ich zu beschäftigt damit war, die Spielanweisungen zu befolgen.

Haug: Stimmt, man ist anders gefordert. Zum Teil geht es sogar um eine bewusste Überforderung. Die Zuschauer müssen Geschichten zuhören, Entscheidungen treffen, agieren und auch noch interagieren. Viele kommen hinterher erschöpft raus, sagen aber zugleich, sie würden am liebsten gleich noch mal rein, um die Geschichten zu hören, die sie aufgrund ihrer Entscheidungen dieses Mal nicht mitbekommen haben. Klar könnte man aus dem Material auch ein Feature machen, damit man sich alles in Ruhe zu Hause im Sessel anhören kann. Aber uns sind nicht nur die Geschichten wichtig, sondern auch die Stresssituation. Die Vielfalt der Perspektiven bei solchen komplexen Themen ist verwirrend und eine Überforderung! Und deshalb sind die Formate bewusst anstrengend, sie verweben den Zuschauer in die Geschichten, gleichzeitig muss sich dieser die ganze Zeit selbst beobachten, wie er sich auf bestimmte Dinge einlässt oder eben nicht. Parallel sieht er die anderen Zuschauer, wie sie teils freudig, teils zögerlich mitmachen oder sich sogar dagegen sperren. Darum geht es: Haltungen zu spüren.
Kaegi: Und: Dinge, die man sinnlich erfahren hat, behält man anders in Erinnerung.

Die Teile Ihrer Tetralogie sind an unterschiedlichen Orten entstanden: München (1), Düsseldorf (2), Dresden (3) und Zürich (4). Was erwarten Sie sich von der Zusammenschau, wenn „Staat 1–4“ jetzt im März komplett in Berlin läuft?

Haug: Sicher werden die thematischen Bezüge deutlicher. Ich bin selbst gespannt darauf, die einzelnen Teile, die ja in einem Zeitraum über zweieinhalb Jahre hinweg in unterschiedlichen Konstellationen entwickelt wurden, so komprimiert zu erleben. Die Hoffnung ist, dass alle vier Teile zusammen ein fünftes erzählen.

 

 


Projekte

Staat 1-4
Weltzustand Davos (Staat 4)
Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3)
Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)
Top Secret International (Staat 1)