Von Petra Kohse
29.06.2006 / Frankfurter Rundschau
Auf Berliner Stadtbussen wirbt Bulgarien derzeit mit einer riesigen Rosenblüte und dem Slogan "Republik Bulgarien - Näher zu Ihnen". Damit will der weltgrößte Rosenölexporteur dem hierzulande laufenden Ratifizierungsverfahren für seinen EU-Beitritt kurz vor der Sommerpause noch einmal gewinnend zulächeln. Was Problembewusstsein zeigt. Denn Einwände gegen die geplante Aufnahme schon zum 1. Januar 2007 gibt es genug. Menschenrechtsverletzungen in Psychiatrien und Kinderheimen. Organisierte Kriminalität. Missverwaltung von EU-Geld. Und jetzt auch noch die ehemalige Geheimdienstmitarbeit des Präsidenten.
Nach den Ferien werden Bundestag und Bundesrat über die Verträge mit Bulgarien und Rumänien entscheiden. Zwölf der 24 anderen EU-Mitglieder haben bereits dafür gestimmt, dass der Karren rollen wird.
In einem anderen Teil der Wirklichkeit rollt er längst. Auf den europäischen Autobahnen sind Tausende bulgarischer Lastwagenfahrer seit vielen Jahren im Auftrag europäischer Firmen zu Dumpinglöhnen und meist nur mit Touristenvisa unterwegs. Der Regisseur Stefan Kaegi von der Gruppe Rimini Protokoll hat zwei von ihnen für ein halbes Jahr engagiert und lässt sie in Basel, Berlin, Essen, danach Avignon, Ljubljana, Warschau, Zagreb, Belgrad und schließlich Sofia selbst in einem zum Theater umgebauten Lastwagen Publikum statt Waren durch die Städte fahren und - teils live, teils mit Hilfe von Videoeinspielungen - einen Eindruck von ihrer täglichen Arbeit geben. Cargo Sofia - Berlin heißt das in Berlin.
Die Geschichten, die der 34-jährige Experimentaltheatermacher Kaegi aus Gesprächen mit den beiden herausgefiltert und geordnet hat, sind durchaus als Theatertexte zu betrachten und werden in allen Städten die gleichen sein. Gesprochen wird englisch, deutsch oder bulgarisch, im Sichtkontakt über Microport oder im Echtzeitvideo aus der Fahrerkabine. Die Stationen, die in den Städten angefahren werden, sind verschieden, ebenso die vorbereiteten Kontakte mit Leuten vor Ort. Dazu kommen jeweils spontan gesuchte Begegnungen der Fahrer mit Kollegen auf Parkplätzen. Dokumentarische Live-Art, wenn man so will. Wobei die Wirklichkeit nicht als Readymade verkunstet, sondern umgekehrt der Kunstkontext, nämlich das Theaterpublikum, im verspiegelten Lastwagen undercover vor Ort gebracht und an die Welt angeschlossen wird.
Die Geschichte des Spediteurs Betz
Innen schieben sich während der Fahrt Autobahnaufnahmen aus den Ländern vor die Fenster, die man auf der imaginären Tour von Sofia nach hier gerade durchfährt. Dazu läuft Schrift über die Leinwände: Kaegi gibt einen Abriss der Unternehmensgeschichte des Spediteurs Willi Betz aus Reutlingen, von dem das Dumpinglohn-Erfolgsrezept stammt. Man kaufe einen Speditionsbetrieb in einem Billiglohnland und lasse die eigene Lkw-Flotte von dort aus arbeiten. Wegen Bestechung, Sozialversicherungsbetrug und Urkundenfälschung wurde der geschäftsführende Unternehmersohn Thomas Betz Anfang des Jahres verhaftet.
In Berlin startet der Lastwagen vor dem koproduzierenden HAU. Ein Volvo-Truck mit dem Namensschild "Ventzislav" auf der Beifahrerfensterseite und einem gemalten 50er Jahre-Pin-up hinter dem Fahrersitz. Ventzislav (Vento) Borissov und sein Kollege Svetoslav Michev legen Rampen an, lassen 47 Zuschauende ein, erzählen, was sie sonst so transportieren (Klopapier, Fisch) bitten - auch Ware wird angeschnallt - um die Benutzung der Gurte, sagen, der Laderaum würde jetzt verplombt, und los geht's.
Man sitzt zur Fahrtrichtung seitlich, sieht Bilder aus Sofias Innenstadt, später Serbien, Italien, bekommt die Bakschisch-Gesetze an den Grenzen erläutert und lernt die beiden langsam kennen. Vento, ein kleiner, drahtiger Mann, Anfang 50, der schon bis nach Syrien gefahren ist und gerne tanzt. Svetoslav ist zehn Jahre jünger und der ernste Typ. Nie würde er sich auf gefährliche Geschäfte einlassen, wie eine ganze Tankfüllung in Iran mit einem Playboy-Heft zu bezahlen. Er fährt am liebsten allein, hört gerne Wagner und telefoniert zweimal die Woche mit seinem Sohn. Zwei Wochen sind die Fahrer oft unterwegs, von Sofia nach Deutschland, Frankreich, Spanien und zurück. Das Essen für die ganze Zeit nehmen sie mit, "und wenn wir mal nach dem Weg fragen, kann es vorkommen, dass wir mit einem Menschen sprechen". (Vento)
Auf dem AVUS-Rastplatz in Berlin
Einer der Berliner Stopps, bei denen die Sicht wieder frei wird auf das echtzeitige Draußen, ist der AVUS-Rastplatz. Svetoslav, der türkisch spricht, unterhält sich mit einem Truckfahrer aus Istanbul, der hier drei Tage warten muss, bis er neue Ladung bekommt. Sein Klappstuhl liegt über einem der mächtigen Räder, an der kleinen Küche, über die osteuropäische Trucks verfügen, hängt eine orange Plastiktüte. Vento besucht derweil einen litauischen Fahrer. Ruhig steht der in Latschen auf dem Platz, kratzt seinen mächtigen Bauch und schaut dem seltsamen Theater-Volvo verständnislos und etwas wehmütig nach.
Auch zum Großmarkt geht es, der Pförtner und ein Spediteur erläutern ihre jeweiligen Arbeitsabläufe, durch die Waschanlage fährt der Truck und zu den Dieselsilos auf dem Westhafen. Die Rastplatzbewohner aber hinterlassen den tiefsten Eindruck. Menschen im Transit, in Tunneln, deren Lebenszeit nur von anderen auf der Habenseite verbucht werden kann. Trotzdem liegt kein Pathos in diesen Szenen.
Am Ende stehen Ventzislav und Svetoslav gegenüber vom Theater auf dem Gehweg und trinken Schnaps. Seitlich am Truck gehen Theaterschweinwerfer an, und sie verbeugen sich. Vom Kunstraum aus in die Welt zu blicken und das Erschaute als gleichberechtigt zu würdigen - darin liegt nicht nur die Intelligenz und Schönheit dieser Arbeit, sondern auch eine politische Vision.
In Berlin bis 1. Juli, ab 7. Juli in Essen. Danach beim Festival in Avignon, weitere Stationen bis Februar 2007. www.hebbel-am-ufer.de