… und wir sind nur die Kandidaten
Rimini Protokoll «Best Before» (Hebbel am Ufer)
Von Eva Behrendt
01.06.2010 / Theater Heute
Dies ist so ziemlich der letzte Ort, an dem damit zu rechnen war, eine Spielekonsole in die Hand gedrückt zu bekommen. Bislang pflegt das Theater als Hort der Hochkultur schließlich kaum Sympathie für gepixelte Zerstreuungen und widmet sich – wenn überhaupt – lieber der kulturkritischen Betrachtung des Amoklaufs, als selbst den Zuschauer mit einer virtuellen Knarre auszustatten.
Das Regiekollektiv Rimini Protokoll interessiert sich jedoch schon lange für einen erweiterten Spiel- und Theaterbegriff und hat nun einen Theaterabend als kollektives Videogame inszeniert.
Zu Anfang sieht alles nach einer ganz normalen Rimini-Performance aus.
Ellen Schultz, früher freie Radiojournalistin, heute Lotsin im kanadischen Straßenverkehr, stellt sich als eine von vier typischen Alltagsexpertinnen vor, die Helgard Haug und Stefan Kaegi in Vancouver, dem Produktionsort von «Best Before», gecastet haben. Zusammen mit Duff Armour, der als Spieletester und Produzent beim Softwarekonzern Electronic Arts gearbeitet hat, dem promovierten Gamedesigner Arjan Dhupia sowie
Brady Marks, die auch das Programm für «Best Before» geschrieben hat, lenkt und moderiert sie das Publikum durch den Spielverlauf.
In einer Art kollektiver Sturzgeburt ploppen rund 200 zweidimensionale Flummibällchen auf die tennisfeldartige Bildschirm-Spielfläche im Bühnenhintergrund. Ein jeder repräsentiert einen Zuschauer – und ist von diesem auch steuerbar: Zumindest können wir unsere kegelförmigen Avatare zur Seite, nach vorne und hinten bewegen sowie mittels Jump-Taste in die Höhe hüpfen lassen. Doch die meisten Spielzüge in «Bestland» – so heißt der virtuelle Staat, in dem die Flummi-Avatare einen Lebenszyklus von Geburt bis Tod durchlaufen – ergeben sich daraus, ob wir uns auf dem Spielfeld nach links oder rechts sortieren. Und zwar auf so gesellschaftspolitisch wie entwicklungspsychologisch bedeutsame Fragen hin wie: Sollen alle gleich oder in ihren Begabungen verschieden sein? Sind Migranten willkommen? Wollen wir eine Verschärfung der Waffengesetze? Bist du männlich oder weiblich, spielsüchtig oder eine Leseratte? Hast du mit 15 schon Sex gehabt, Heroin gespritzt oder Hasch geraucht?
So werden die Flummis mit niedlichen Streberbrillen, Kifferwolken, Heiligenscheinen und Babys ausgestattet, müssen bei Ansteckung in einer Epidemie für drei Fragerunden im Krankenhaus aussetzen, wachsen oder schrumpfen je nach Job-, Investitions- und Partnerwahl. Eine Entscheidung aber muss jeder unaufgefordert selber treffen: Spielt man im Einklang mit seinen realen Überzeugungen – oder wird man zum Hasardeur, der einfach gewinnen will? Lässt das Reglement überhaupt strategisches Handeln zu? Und ist das Ganze als Metapher auf ein siegreich geführtes Real Life zu verstehen? Letzteres – und das ist der Knackpunkt dieses Rimini-Protokoll-Experiments – lässt sich in zwei Spielstunden nicht erschöpfend klären.
Meine Zufallsentscheidungen entpuppen sich jedenfalls als erstaunlich profitabel. Trotz Knastaufenthalt, Teenagerschwangerschaft und reaktionären Ansichten, mit schlecht bezahltem, aber krisensicherem Lotsenjob und biederem Hausbau bläht sich mein Avatar im Laufe seines Bestlandlebens ziemlich auf. Um ein Haar hätte ich es sogar unter die vier Hallodris geschafft, die zur Präsidentschaftswahl aufgestellt wurden. Doch am Ende ereilt mich dasselbe Schicksal wie alle anderen: Wir werden von einem kräftigen Todeswind aus dem Bildschirm gefegt. Und es gibt nichts, woran wir uns festhalten könnten.
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