Von Eva Maria Nagel
26.11.2006 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Frankfurt. Juri Gagarin hat eine Runde um die Welt gedreht und ist seitdem ein Held. Ventzislav Borissov, genannt Vento, und Nedjalko Nedjalkov, 53 und 54 Jahre alt, haben zwei Runden um die Welt gedreht. Sind sie deshalb Helden? "Vielleicht für deine Frau", sagt Nedjalkov und lacht leise.
Heldentum sieht so aus, drei Meter über dem Boden und von der Freiheit unendlich weit entfernt: Man wartet 20 Minuten im Niemandsland zwischen Bulgarien und Serbien, dann darf man 20 Meter weiterfahren. Die Schlange der Lkw ist sieben Kilometer lang, drei Tage dauert es, über die Grenze zu kommen. Für das Bakschisch der Zöllner gibt die Spedition 25 Euro. Wird mehr verlangt, muß der Fahrer zahlen.
Das Niemandsland liegt irgendwo im Osthafen. Und plötzlich sieht Frankfurt aus wie Bulgarien. Es sieht auch aus wie Belgrad und wie Wien. Man muß nur richtig hinsehen. Borissov und Nedjalkov sitzen im Führerhaus ihres Lkw, unterwegs von Sofia nach Frankfurt. Zu zweit fahren sie Tag und Nacht, am Ende wird jeder 100 Euro verdient haben. Fünf Tage dauert das insgesamt. So fühlt es sich auch für die Zuschauer an, obwohl die Fahrt im verglasten Lkw nur zwei Stunden dauert. Stefan Kaegi, der Tausendsassa des Wirklichkeitstheaters, ist eine Woche lang beim Cutting Edge-Festival im Frankfurter Mousonturm zu Gast. Seine Inszenierung, die schon in zehn europäischen Städten gezeigt wurde, wird in unendlicher Kleinarbeit maßgeschneidert für jeden Ort: In "Cargo Sofia - Frankfurt" fahren ungefähr 50 Leute im Inneren eines Lkw durch das nächtliche Frankfurt. Borissov und Nedjalkov, die aus ihrem Leben erzählen, werden zu den Ciceroni durch eine fremde Welt mit ihren - echten - Protagonisten: Transport, Transit, Menschen, Waren. Borissov sagt zu Beginn: "Sie sind meine Ladung. Bitte anschnallen. Guten Transport." Das hört man noch öfter, im Hafen und in Hallen: "Guten Transport." Sagen die Trucker und Containermanager, Logistikmeister und Müllsortierungsanlagenverwalter, die von ihrer Arbeit berichten, das wirklich? Hinter verschlossenen Türen, wenn es ruckelt und schaukelt, steigen da düstere Bilder auf: von Illegalen, die in Kühltransporten erfrieren. Von Deportationen. Alles, was auf die Zuschauer einströmt, löst Assoziationen aus, positive wie negative.
Das ist die Kraft eines theatralischen Konzepts, das Kaegi allein oder mit dem Kollektiv Rimini Protokoll seit einigen Jahren erfolgreich einsetzt: Mit Realität in einer Inszenierung so umzugehen, daß sie einen bisweilen atemberaubenden Zugewinn erfährt. In der Vermischung von Geplantem und Zufälligem, von Videos, Musik, Live-Übertragungen und Haltestellen zoomt Kaegi diesmal die Härte des Lebens heran, Ausbeutung, Globalisierung, Technisierung, ein Wirtschaftskrimi. Es ist ein Einblick in Fremdes, eine Art Aufklärung. Doch ist Kaegi zu klug, um plakativ zu sein. Und zu interessiert am Menschen, um nicht immer auch das Eigene in diesen fremden Geschichten spüren zu lassen. "Cargo Sofia - Frankfurt" ist im besten Sinne eine kritische Inszenierung - und eine poetische dazu. Denn es entsteht auf dieser nächtlichen Fahrt eine spröde Schönheit der Orte und der Leute. Und eine bulgarische Sängerin, die immer wieder im Dunkel auftaucht mit ihren traurig-schönen Liedern, tut nichts anderes, als das Zauberhafte in der Wirklichkeit zu demonstrieren: Einmal steht sie mitten auf der Wiese des Kaiserlei-Kreisels und singt. Es sieht aus, als gehöre sie dorthin. emm.
Bis zum 1. Dezember jeden Abend außer heute um 19 Uhr.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.11.2006, Nr. 47 / Seite R4