Von Sabine Leucht
08.06.2005 / taz
Dr. Sven-Joachim Otto ist Richter am Sozialgericht und hat einen Sitz im Mannheimer Stadtrat inne. Nun aber schreitet er besenstielgerade und mit der Majestät eines innerlich Unverrückbaren über die weite Bühne im Probezentrum Neckarau und liefert als Teil des Theaterprojekts "Wallenstein" die grotesken Details zur endgültigen Demontage aller Wahlkampfstrategien: 1999 wurde Otto als Kandidat der CDU für das Mannheimer Oberbürgermeisteramt aufgestellt, musste als völliger Nobody mit einem kühlen Fässchen unterm Arm von Gartenparty zu Gartenparty tingeln, für Image-Fotos fremde Hunde und Kinder an sich reißen und wurde trotz politisch korrektem Lieblingsessen ("Spagetti mit Tomatensauce - da eckt man nicht an") von seinen Parteifreunden hinterrücks abgesägt.
Alles Augenreiben hilft da nichts, aller Argwohn trügt: Hier hat sich kein professioneller Schauspieler ein fast klischeehaftes Junge-Hoffnung-der-Konservativen-Gesicht aufgesetzt. Dieser Mann ist so echt wie seine unglaubliche Geschichte. Und wird überdies so arglos nicht sein, wie er wirkt. "Wer von Ihnen hat mich damals gewählt?", fragt er ins Publikum - und man möchte fast schon für ihn lügen.
"Was bleibt vom Theater der Macht nach dem Sturz?", fragen die Inszenatoren von Rimini Protokoll in ihrem "Wallenstein"-Stück. "Alles ist Partei und nirgends", sagt der Feldherr Wallenstein in Schillers gleichnamiger Dramen-Trilogie, die diesem denkwürdigen Abend als Bezugsfläche dient. Theatre and politics at its best! Und all das bei den 13. Mannheimer Schillertagen, die im Schiller-Jubiläumsjahr zwar üppiger und internationaler kredenzen denn je, aber mit einer scheppernden "Glocke"-Deklamation und einem ideenblassen "Wilhelm Tell" zur Eröffnung eine demonstrativ wirkende Bannmeile ziehen zwischen den angereisten Schiller- und Theaterhungrigen und all jenen Wagemutigen, die am Klassiker-Sockel kratzend zum vielfältigen "Schill-Out" rufen. Für Thomas Langhoffs teuer bezahlten Auftrags-"Tell" würde es genügen, mal schnell zum Apfelschuss vorbeizuschauen. Während des langen Rests bewegen sich ohnehin nur die abstrahierten Schweizer Berge. (Und auch die bloß mechanisch.)
Die dokumentarische "Wallenstein"-Inszenierung von Rimini Protokoll dagegen ist jede der 120 Minuten wert, die sie dauert. Weil Helgard Haug und Daniel Wetzel begnadete Rechercheure und Menschenfischer sind - auch ohne den diesmal nur zuschauenden dritten "Protokollanten" Stefan Kaegi. Weil hier 10 Laiendarsteller und Lebensexperten aus Mannheim und dem koproduzierenden Weimar ihren Schiller so zur Rede stellen, dass man noch Stunden später selbst darüber am Reden ist. Und weil das Gefühl der Regisseure für Rhythmus und graduelle Verschiebungen von Sätzen und Bedeutungen, Kulissen und Figuren jeden Mangel an Sprech- und Spielvermögen der Laiendarsteller wett macht.
Da ist der Schiller-Fan im Fußballdress, der sein gebrochenes Herz mit der Einübung von Versen heilt: "Seh'n wir nicht aus wie aus einem Span?" Da ist der bestürzend vertraut wirkende alte Mann, der während des Zweiten Weltkriegs Flakhelfer war, genauer: "Richtkanonier für Höhe". Da sind die beiden Vietnam-Veteranen und Anti-Kriegs-Aktivisten mit den detailreichen Gräueln der eigenen Seite im Kopf und dem Sound von Jimi Hendrix und den Doors im Herzen. Der Kellner, der die Mächtigen dieser Welt bediente und immer schwieg, die alternde Leiterin einer "Seitensprung-Agentur" in Oggersheim, die auch auf der Bühne stets erreichbar ist, die fahrige Astrologin auf der Suche nach "dem Knackpunkt des Lebens", der Ex-Vopo und der Zeitsoldat.
Sie alle werden in dieser Inszenierung ausgestellt und geschützt zugleich, wirken lächerlich und liebenswert, heldenhaft und traurig, dürfen rot werden und sich verhaspeln, und sind als sie selbst immer ein wenig auch die Wallensteins, Piccolominis und Gräfin Terzkys dieser Welt: treue Verräter, Strippenzieher und Opfer von Intrigen. Hin und wieder werden die Namen der Figuren genannt, die ja auch Schiller selbst schon größtenteils der Wirklichkeit abgelauscht hatte. Hier, in Mannheim-Neckarau, werden sie und die Essenz ihres Dramas dem Leben wieder zurückgegeben. In behutsam verdichteter Alltagssprache und bald albtraumhaft, bald irre komischen Szenen, die man lange nicht vergisst.
"Wallenstein" von Rimini Protokoll, bis 10. Juni in Mannheim, 16.-18. Juni in Weimar
taz Nr. 7684 vom 8.6.2005, Seite 16, 151 Zeilen (Kommentar)