Von Christian Deutschmann
26.05.2011 / Frankfurter Allgemeine Download PDF
26.05.2011 · Deutschlandradio Kultur und die Gruppe "Rimini Protokoll" machen in Berlin die Geschichte der Stasi lebendig
Mehr als zwanzig Jahre ist es nun her, dass jenes Gebilde verschwand, das mit dem Vorwand errichtet worden war, es schütze ein Gemeinwesen gegen Eindringlinge. Es stürzte viele ins Unglück, gab aber auch einer stattlichen Anzahl von Menschen Brot und Lohn. Sie, die Stasi, besaß weder Gesicht noch Charakter, dafür Auge und Ohr, war allüberall und ihr höchster Lohn war, wenn sie alles im Griff hatte.
Ihr unheimliches und so verhängnisvolles Wirken führt gegenwärtig in Berlin noch einmal ein Vorhaben der Gruppe "Rimini Protokoll" vor Ohren, das nach zweijähriger Recherche bei der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen entstand und den Besucher fünfzig Jahre Mauerdasein in nuce erleben lässt. "50 Aktenkilometer" läßt den staunenden Zeitgenossen, nachdem ihm ein speziell präpariertes Android-Handy samt Kopfhörer und Stadtplan ausgehändigt wurde, das Gebiet zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz abwandern, das in 125 akustische "Blasen" aufgeteilt wurde. Betritt man eine dieser virtuellen Inseln, deren Radius sich zwischen 25 und hundert Metern bewegt, so löst das per Satelliten-Ortung einen auf dem Gerät gespeicherten und auf den jeweiligen Schauplatz bezogenen Audio-File aus: eine Erinnerung, eine Geschichte, ein Gespräch oder einen der Mitschnitte aus der Telefonzentrale des "Zentralen Operativstabs des Ministeriums für Staatssicherheit".
Eintauchen also in die Welt der Überwachung und des Überwachtseins. Da begegnen sich Opfer und Täter, und schon im Sprechgestus wird klar, wer hier wem überlegen ist. Auf der einen Seite die Spitzel mit ihrem monotonen, jedweder Lebensregung entfremdeten Singsang: Man sieht sie förmlich, wie sie in ihrer betonten Unauffälligkeit - beige Blousons, ausgeleierte Jeans, Schirm und Handtäschchen am Arm - jedem DDR-Bürger vertraut waren, an allen Straßenecken und Plätzen herumlungerten und ihre Berichte, oft von Belanglosigkeiten strotzend, weitergaben. Eine Welt, die neben gruseligen und tragischen durchaus auch komische Seiten hat. Denn: hört man diesen Spitzeln zu, die da - meist auf Sächsisch - Beobachtungen weiterreichen, sich verhaspeln im Dickicht der Worte und mit einer Ich-losen, ganz aufs Funktionale reduzierten Sprache zu kämpfen hatten, hat man fast Mitleid mit ihnen. Dann wird sie sichtbar, die Ohnmacht einer Apparatur, deren Wirken bei allem, was es anrichtete, letztlich Sisyphos-Arbeit war.
Doch dann die Opfer: Schicksale, die oft bis heute nicht verkraftet wurden und zuweilen in Selbstmord oder der Psychiatrie endeten; Fluchtgeschichten, Familientragödien, nachträgliche Enthüllungen; die Romanze eines jungen DDR-Bürgers mit einem Westler, die im Drama endet; der Gang durch den einstigen Grenzbahnhof Friedrichstraße, ein kafkaeskes Labyrinth. Daneben der Galgenhumor jener, die sich ihrer Verfolgung bewusst waren und mit der Stasi Katz und Maus spielten. Aber auch späte Einsichten und Versuche der Rechtfertigung des eigenen Mitmachens.
Das Deutschlandradio Kultur, das die Idee zu dem Rundgang hatte, hat die technische Realisierung betrieben. Wollte man sich spazieren gehend alle Tondokumente zu Ohren führen, brauchte man mehr als zehn Stunden. Doch noch bis zum 13. Juni bleibt dafür Zeit. Anschließend kann man ins Internet gehen und auf www.dradio-ortung.de die Reise in eine gottlob vergangene Welt mittels eines interaktiven Stadtplans unternehmen.
Christian Deutschmann
50 Aktenkilometer läuft bis 13. Juni täglich von 16 bis 22 Uhr, sonntags ab 14 Uhr. Startpunkt ist der Fernsehturm am Alexanderplatz (1. Obergeschoss, Zugang gegenüber der Rathauspassage). Reservierung beim Mitveranstalter HAU 2, Telefon 030 25 900 427 oder unter www.hebbel-am-ufer.de, wird empfohlen. Ein Personalausweis muss als Pfand zur Handyausleihe mitgebracht werden.