Von Alexandra Kedves
20.08.2019 / tagesanzeiger.ch
Die vier haben die Energie der «Fridays for Future»-Jugend – und die Nehmerqualitäten von Menschen, die gelernt haben, mit geplatzten Träumen umzugehen. Denn sie sind aus Kuba: Diana und Milagro, die beiden jungen schwarzen Frauen, die sich die Haare nicht mehr glätten wie noch ihre Grossmütter; Daniel und Christian, die zwei jungen weissen Männer, die nicht mehr in so unkritischer Nibelungentreue zum Staat und seiner Führung stehen wie noch ihre Grossväter. Und dies auch sagen, obwohl Zensur, Kontrolle und Repression durchaus keine Hirngespinste sind im karibischen Inselstaat, in den sie nach der Tournee von «Granma – Posaunen aus Havanna» zurückkehren.
Der Opa war der Umverteilungschef
Federführend in Konzept und Regie war der 1972 in der Schweiz geborene Stefan Kaegi der Gruppe Rimini Protokoll. Und die Fragen, die er an die vier Experten des kubanischen Alltags heranträgt, sind die unseren: Hat das Land, das dem Kapitalismus die Stirn bieten wollte, für seine Bevölkerung eine bessere Welt geschaffen? Welche Steine wurden ihm in den Weg gelegt, und vom wem? Was müsste man anders machen, um eine wirklich soziale und faire Gesellschaft hinzubekommen? Das Quartett blickt für die Antworten zurück auf das Leben der Grosseltern.
Daniels Opa hatte gar als Fidel Castros Minister für Enteignung und Umverteilung geamtet, bis er mit der sich einschleichenden Korruption nicht mehr gut klarkam. Der Enkel nimmt die öffentlichen Reden des (Ex-)Ministers auf der Bühne kritisch unter die Lupe; historisches Foto- und Filmmaterial belebt den retrospektiven Ansatz. Überhaupt interagiert die Enkelgeneration während der Vorstellung permanent mit der Generation Castros – und mit uns. Sie erkundigen sich nach den Ungleichheitserfahrungen hierzulande, verweisen auch auf schweizerische Verstrickungen in der erstickenden Sanktionshistorie Kubas.
Geschichtsheroen als Pappkameraden
Und sie erzählen von sich persönlich, während eine alte Singer-Nähmaschine sich durch die Jahre und die Geschichte rattert: von der klandestinen Ankunft Castros und Che Guevaras auf Kuba in der Jacht namens Granma im Jahr 1956 über den Mauerfall 1989, der alles veränderte und auf der Karibikinsel zur Hungersnot führte, bis hin zu Kubas privatwirtschaftlichen Öffnungen – und Verwerfungen – von heute. Per Livecam übertragene Animationssequenzen machen aus den Heroen buchstäblich Pappkameraden und stellen die historischen Momente nach (Video: Mikko Gaestel).
Und die Laien spielen hinreissend frisch von der Leber weg. Wenn die Posaunistin Diana um die Welt reist, dann, um als Musikerin Karriere zu machen, bekennt sie – und nicht, um die Soldaten zu beflügeln, wie einst ihr Opa mit seiner Band. Milagro, Enkelin einer Näherin, ist zwar begeistert, dass ihr die Revolution ermöglicht hat, zu studieren: Sie ist die Erste in ihrer Familie mit Hochschuldiplom. Aber dass sie mit dem ersehnten Job als Geschichtsprofessorin weniger verdienen wird denn als Touristenguide in Havanna, zeigt ihr, dass etwas schwer schiefgelaufen ist. Auch im Kampf gegen den Rassismus sei in der kubanischen Gesellschaft noch viel zu tun, sagt sie auf der Bühne Nord.
Die Fantasien der alten Kämpfer
Christians Opa seinerseits war als Soldat in Angola, um die marxistisch-brüderlichen Befreiungskämpfer dort und auch in Südafrika zu unterstützen. Sein Enkel dagegen deutet diesen militärischen Einsatz Kubas im Rückblick als Aktion aus Not; Russland habe Kuba keine andere Wahl gelassen. Egal, der Grossvater wird als freundlich lächelnder Greis hineingebeamt ins Bühnengeschehen: An die Lyrics der patriotischen Marschlieder kann er sich nicht mehr so genau erinnern, aber eins steht für ihn fest – die kubanische Revolution ist das Beste, was dem Land passieren konnte. Sein Enkel solle sich mit Leib und Seele dafür einsetzen.
Und mag das Haus auch verfallen, in dem Milagros Oma seit ihrer ersten Schwangerschaft bis zu ihrem Tod gelebt hat: Ohne die Revolution hätte sie gar kein Haus gehabt. Diese enteignete eine geflohene Mittelschichtsfamilie; oder nationalisierte, je nach Auffassung, zum Wohle aller ein leerstehendes Haus. Nein, eine Konsumhölle, wo jeder nur seiner Gier folge, wie das etwa in helvetischen Warenhäusern mit ihren überquellenden Produktpaletten zu beobachten sei, wünsche sie sich nicht für ihre Heimat, formuliert Milagro. Kuba bleibt Folie für Hoffnungen und Projektionen.
Der Abend offeriert keine Eindeutigkeiten. Aber Grossartigkeiten. So kann Dok-Theater mit Laien – samt drei Laienposaunisten – brillieren: Wenn es hart und schnell ist, witzig und abgründig, musikalisch und trotzdem furchtlos belehrend. Man erfährt viel im zweistündigen «Granma»: über scheinbare historische Marginalien bis zur grundsätzlichen Zwiespältigkeit jeder Geschichtsdeutung. Die Didaktik von Rimini Protokoll braucht Courage. Mit solchen Mitwirkenden aber generiert sie – man traut es sich angesichts des Abends kaum hinzuschreiben – lustvollen Theaterkonsum.