Todesschuß und Fußball

SOKO São Paulo – ein umjubeltes Polizistenprojekt von Lola Arias und Stefan "Rimini" Kaegi

Von Georg Kasch

20.11.2007 / Nachtkritik.de

München, 20. November 2007. Zur Halbzeit steht es 4:3 für die Grünen. "Wunderbarer Fußball!", verkündet Sportreporter Günther Koch, während das Publikum den zwei Mannschaften zujubelt, jede eine Mischung aus sechs brasilianischen und deutschen Polizisten, Männern und Frauen. Auf dem Feld von 17 mal sieben Metern schießen die Spieler mit einem Kinderball auf Miniaturtore. Spannend ist es trotzdem. Das Spiel ist der Höhe- und Endpunkt von "SOKO São Paulo", der zweiten Uraufführung des an bemerkenswerten Projekten reichen Spielart-Festivals. Lola Arias, argentinische Autorin und Regisseurin, und der Schweizer Stefan Kaegi, Mitglied des preisüberhäuften Theaterkollektivs Rimini Protokoll, untersuchen in ihren Projekten die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Im gemeinsamen "SOKO São Paulo" nehmen sie die Polizei unter die Lupe: München ist die sicherste Stadt Deutschlands, São Paulo mit seinen Favelas ein wesentlich brutaleres Pflaster. Hier sterben zwei bis drei Polizisten im Monat; in München wurde zuletzt 1995 ein Polizist im Dienst getötet. Letzte ZigaretteIn zwei leerstehenden Etagen des ehemaligen Leibniz-Rechenzentrums verteilen sich die sechs brasilianischen und sechs deutschen Polizisten auf die einzelnen Räume. Kriminalhauptmeisterin Verena Kunze erzählt im Zehn-Minuten-Takt vor zwei Stuhlreihen von einem Einsatz, bei dem sie eine Frau retten sollte, die von deren Ex-Freund mit Benzin übergossen und angesteckt wurde. Dem Opfer hing die verbrannte Haut in Fetzen vom Leib, dennoch bat es um eine Zigarette – die letzte: "Ich sehe das heute noch genau vor mir." Entschlossen und taff wirkt die blonde Mittdreißigerin, und doch verrät ihre vibrierende Stimme die emotionalen Spuren. Im Stockwerk drüber sitzt Sebastião Tixeira dos Santos, ein lange pensionierter Herr im Karohemd. Wie überall sind die Wände mit biographischen Zeugnissen behängt. Ein Foto zeigt ihn 1964, kurz nach Beginn der Militärdiktatur, als jungen Schlaks bei seinem Eintritt in den Polizeidienst, ein anderes mit einer Medaille. Zusammen mit der Dolmetscherin wartet er darauf, dass ihm jemand Fragen stellt. Wandtexte teilen mit, dass er nicht darüber reden will, wie viele Menschen er getötet hat. Stattdessen erzählt Sebastião von seiner Zeit als Universitäts-Patrouille. Er verstand sich bestens mit den Studenten, diese sich aber nicht mit der Militärdiktatur. Wenn es zum Konflikt gekommen wäre, hätte er dennoch seinen Dienst getan. Oder hat er es sogar? Kann man seinen Happy-End-Geschichten glauben? Was berichtet er nicht? Über Waffen und Medaillen spricht er offensichtlich gerne, und es ist nicht leicht, sich aus seiner verbalen Umklammerung zu lösen. Kopfprämie für jeden toten Dieb Doch die Zeit drängt. Nur eineinhalb Stunden bleiben, um die zwei Stockwerke zu erkunden. Und hinter jeder Tür lockt eine neue Erfahrung, eine weitere Perspektive. Dass das Töten in Brasilien zum Polizistenalltag gehört, bestätigt Thiago de Paula Santos Alves. Der junge Mann demonstriert eine Schießübung und berichtet, dass einige seiner Freunde bei dem Versuch, mit Worten zu deeskalieren, erschossen wurden. Er selbst arbeitet längst bei einer Sicherheitsfirma, die ihm das Vierfache des staatlichen Gehalts zahlt. Für jeden toten Dieb erhält er eine Kopfprämie. So geht es weiter von Zimmer zu Zimmer. Filme zeigen junge brasilianische Polizisten beim Morgenappell, ihre Sprechchöre wirken wie ein realsozialistisches Ritual, den Münchner Polizeichor beim Bier, Kollegen dies- und jenseits des Atlantiks im Schießraum. Deutlich wird, dass die Polizisten zahlreichen theatralen Situationen ausgesetzt sind, schon in der Ausbildung arbeiten sie mit Plastikrequisiten in Sperrholzkulissen, schlüpfen wechselweise in die Rollen von Opfern und Tätern und müssen später als verdeckte Ermittler schauspielerische Qualitäten entwickeln. Erinnerung oder Verklärung? Nachdem sich das Publikum eineinhalb Stunden lang individuell seine Dramaturgie zusammengestellt hat, versammelt es sich im Foyer zu einer der zentralen brasilianischen wie deutschen Kollektivitätserfahrungen: dem Fußball. Über Kopfhörer wird neben Günther Kochs übermütigen Kommentaren Stadionjubel übertragen. Spannend ist das kurze Duell, ein Tor jagt das nächste, und würde Koch nicht immer wieder biographische Details der Spieler einfließen lassen, man vergäße, dass auf dem kleinen Spielfeld dieselben Polizisten stehen, deren Geschichten man eben noch zugehört hat. Hier unten herrscht eine kindliche Ausgelassenheit, die nichts weiß von verbrannten Menschen und Verbrechen. Am Ende gewinnen die Blauen. Bejubelt werden alle Spieler. Gefeiert wird auch das wahre, ganz normale, abenteuerliche Leben, seine bewegenden, zuweilen banalen, oft spannenden Geschichten. Wie groß der Anteil an Fiktion, Verklärung oder Verdrängung an den vermeintlich authentischen Erinnerungen ist, bleibt das Geheimnis jedes einzelnen Polizisten. SOKO São PauloKonzept und Regie: Stefan Kaegi und Lola Arias, Videos: Fudo Lang, Alberto Troia, Frank Sauer. Mit: Isabel Cristina Amaro, Pedro Amorim, Bennie Baumann, Johann Beck, Thiago de Paula Santos Alves, Eliana Gomes Viana Pires, Michael Kraus,Verena Kunze, Marcel Lima, Manuela Obermeier, Klaus Röschinger, Sebastião Tixeira dos Santos. Kritikenrundschau Christine Dössel findet, der Abend habe eine "hastige Schnellseminar-Struktur", bringe aber trotzdem "sehr schön zum Ausdruck", dass "Polizisten auch nur Menschen" seien. In der Süddeutschen Zeitung vom 23.11. beschreibt sie, wie die Telefonistin der Polizeizentrale von São Paulo Samba tanze, um die Schrecken loszuwerden. Egal, welches der 20 Zimmer man betrete, jedes gewähre einen "Einblick" in eine "erlebte, erlittene Biographie, die der jeweilige Protagonist selber" darstelle und gestalte, "als Rolle in einem authentischen – wenn auch etwas museal anmutenden – Repräsentationstheater". So "puzzelt diese Inszenierung zwar kein Stück, aber ein Stück Welt" zusammen, schreibt Dössel, "in der jeder sein eigener Akteur, Darstellungsobjekt und Darsteller zugleich ist."Petra Hallmayer bejubelt in der taz (22.11.) einmal mehr Rimini Protokoll, "die Vorreiter und Stars des Trends zu dokumentarischen Spielformen". Denn "kaum eine andere Gruppe hat in jüngerer Zeit überzeugender vorgeführt, wie aufregend Theater sein kann, abseits der Konventionen des Betriebs, aber auch des Theoriegeschwurbels und der narzisstisch barocken Verspieltheiten mancher Performancekünstler." Es sei der "hohe Grad an Bewusstheit, die intelligente Inszenierung von Realitätszitaten gepaart mit der Offenheit, ernsthaft zuzuhören, statt die Wirklichkeitsfragmente in vorgefertigte Schnittmusterbögen zu zwingen", was überzeuge. Auch in diesem Fall. Man erlebe "viele Geschichten", die "einem den Atem rauben". Der Erzählfluss sei "klug strukturiert, um ihn nicht in Privatanekdoten verplätschern zu lassen", obwohl es durchaus "belangloses Geplänkel" gebe. Das Fußball-Match am Ende sei aber "richtig lustig". Gemessen an dieser Inszenierung sehe manche Freitagabend-Krimi "alt aus", meint Barbara Welter (tz 22.11.). Schließlich habe man es mit "echten "Bullen" zum Anfassen" zu tun, werde man "Zeuge von Schieß-Übungen in der Favela" und lerne obendrein den "Münchner Kriminaler mit dem Wahnsinnsgedächtnis" kennen. Und überhaupt sei alles "ganz nah an der Realität", dennoch aber "in eine strenge Theaterform gebunden" und (deshalb?) "unglaublich spannend".Gabrielle Lorenz (Abendzeitung, 22.11.) hat eine "szenische Installation" gesehen, in der eine der "gefährlichsten Megacities" auf die "drittsicherste Stadt Deutschlands" trifft: "Der Vergleich ist beklemmend." Dennoch hätten nicht nur die Südamerikaner, sondern auch die Münchner "Packendes" zu berichten: "Die 90 Minuten sind da viel zu knapp für den Zuschauer, der auswählen muss." Am Ende "entschädigt" aber ein "hochkomisches Fußballspiel" der Polizisten: "Auch für Nicht-Fans ein Ereignis."


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