Von Freitag
17.11.2006 / Freitag
DIE GRUPPE RIMINI-PROTOKOLL BRINGT AM DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS DAS "KAPITAL" VON KARL MARX AUF DIE BÜHNE
Man erkennt sie sofort. Aufgereiht stehen unzählige dunkelblaue Bände mit hellblauem Rückenstreifen in einem breiten Regal auf der Bühne: MEW, Band 23, also Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. Genauso lautet der Titel der neuen Produktion, die die Gruppe Rimini-Protokoll jetzt am Düsseldorfer Schauspielhaus herausgebracht hat. Hinter dem spröden Titel verbirgt sich der Versuch des Regieteams Helgard Haug und Daniel Wetzel, mithilfe von so genannten "Experten des Alltags", die man auch einfach Laien nennen könnte, sich diesem Klassiker nähern.
Einer dieser Experten ist Thomas Kuczynski, Wirtschaftshistoriker, Statistiker, Marx-Forscher und letzter Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er bringt den Abend später ganz lapidar auf den Punkt: "Das ´Kapital´ von Marx auf die Bühne zu bringen, ist eine völlig verrückte Idee. Aber wir müssen die Dinge gelegentlich verrücken, um zu neuen Einsichten zu gelangen".
Was so verrückt erscheint, entspringt allerdings einer konsequenten Entwicklung. Zum einen haben sich Rimini-Protokoll immer wieder mit Themen wie Globalisierung, Neoliberalismus und Marktbeziehungen auseinandergesetzt. So in Sabenation, einem Abend mit früheren Mitarbeiten der Fluglinie Sabena oder in Call Cutta, bei der Zuschauer von einem indischen Call Center durch Berlin geleitet wurden. Andererseits wurde bei der Mannheimer Wallenstein-Produktion, die Rimini eine Einladung zum Berliner Theatertreffen eintrug, erstmals die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text erprobt. Doch so wie es damals nicht um eine werktreue Exegese ging, so sucht auch Karl Marx: Das Kapital eher nach den Fluchtlinien zwischen Buch und Biographie, zwischen Theorie und Alltag, zwischen Analyse und sedierter Erfahrung.
Beglaubigen sollen diese Erfahrung acht Laien, die in einer dreivierteljährigen Recherche ausfindig gemacht wurden. Neben Thomas Kuczynski ist dies unter anderem der blinde Call Center-Agent und manische Plattensammler Christian Spremberg. Wenn die beiden zu Beginn eine einbändige Druckausgabe gegen eine zwölfbändige Blindenausgabe des Kapitals austauschen und Kuczynski den Umfang des Buches in Lese(arbeits)zeit umrechnet, dann werden hier schon en passant Grundbegriffe der Wertanalyse oder des Warentauschs in Szene gesetzt. Dass aber auch der Mensch zur Ware werden kann, hat der lettische Filmregisseur Talivaldis Margevics hautnah erlebt. Bewegend berichtet er, wie seine Mutter ihn 1944 auf der Flucht fast gegen Lebensmittel eingetauscht hätte. Immer wieder stellt der Abend solche Kurzschlüsse her, die trotz dazwischen gestreuter Marx-Zitate nie etwas Belehrendes oder Deduktives bekommen.
Dass kapitalistische Axiome unmittelbar in private Lebenszusammenhänge eingreifen, ist jedoch nur ein Teil des Erkenntnis-Mehrwerts, den der Abend hinterlässt. Ein anderer zielt auf eine Art Indiziensuche, wie Marx´ opus magnum als Buch Spuren in den politischen Biographien der "Darsteller" hinterlassen hat. Da erzählt Thomas Kuczynski nicht nur von seiner Arbeit an einer Neuedition des Kapitals, seiner Selbstabwicklung als Präsident der Akademie der Wissenschaften und seiner Arbeitslosigkeit. Und wenn der Ex-KBW-Gründer und Funktionär Jochen Noth vor der bühnenbreiten Regalwand mit Marxbänden, Spielautomat, Küchenbord, Grünzeug, Monitore und Kaffeemaschine von Parteiarbeit, Demos, Geldverbrennungsaktionen, vor allem aber seiner Wandlung zum Unternehmensberater berichtet - dann werden darin auch historische und private Anpassungsprozesse an einen globalisierten Kapitalismus deutlich. Anpassungsprozesse, denen sich die Übersetzerin Franziska Zwerg oder der junge DKP-Aktivist Sascha Warnecke, der von Widerstandsaktionen vor McDonald-Filialen berichtet, nicht akzeptieren wollen.
Zum Faszinierendsten dieses Abends gehört das ständige Wechselspiel zwischen der Symbolik des Buches, seiner Theorie und den Auswirkungen im privaten Lebensschicksal. Beglaubigt wird dies, und darin liegt der dokumentarische Anspruch, mit dem Rimini-Protokoll seit vier Jahren Subsysteme der Gesellschaft wie Militär, Märkte, Begräbnisbranche untersucht, eben durch die Authentizität der Laiendarsteller. So minutiös die Produktionen der Gruppe geprobt sein mögen, gerade die kleinen Konzentrationsschwächen und Selbstkorrekturen der Spieler erweisen sich als falsifizierender Riss in der theatralischen Politur. Dass diese Experten des Alltags ihre biographischen Erzählungen zudem allabendlich wiederholen müssen, wirft zugleich einen Blick auf die Theatralität des Alltags und das Konstruktive in der Lebenslaufrhetorik.
Zur Rhetorik des Kapitalismus gehört letztlich auch seine dialektische Umkehrung; komplementär zur Akkumulation müsste man von einer Ökonomie der Verschwendung sprechen. Dafür stehen an diesem Abend der Elektroniker und Ex-Gewerkschafter Ralph Warnholz, der als (ehemaliger) Spielsüchtiger sein Eigenheim und gesamtes Hab und Gut versetzt hat. Oder der Hochstapler Jürgen Harksen, der - wie dessen Ghostwriter Ulf Mailänder berichtet - als Anlageberater Millionenbeträge anvertraut bekam und diese mit seinem luxuriösen Lebensstil komplett verjubelte. Nichtsdestotrotz: wenn zwischendurch Das Kapital. Erster Band ans Publikum zum Mitlesen verteilt wird, dann ist klar, welcher Textauswahl unser neues Gesangbuch folgen wird. Und es dürfte schließlich auch kein Zufall sein, dass Karl Marx: Das Kapital, Erster Band in den folgenden Monaten in Frankfurt, Zürich und in (arm, aber sexy) Berlin zu sehen sein wird.