Von Eva Behrendt
01.05.2005 / Theater heute
Die oft schon totgesagte Tante Mitmachtheater ist der Schrecken der Kritiker. Tatsächlich erfreut sie sich außerhalb ihres klassischen Wirkungsfeldes, dem Kindertheater, immer noch höchst robuster Gesundheit. Zum Beispiel im Hebbel am Ufer, Matthias Lilienthals Berliner Spielstätten für die experimentelle Freie Szene. «Bitte zieht Euch oben euer Affenkostüum an», sagt eine junge Frau, die selbst ein Affenkostüm trägt, mit einer Stimme, die keine Spielverderber duldet.
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Call Cutta
Auch die Out-Door-Performances von Rimini Protokoll fordern den mitmachenden Zuschauer, allerdings nicht als darstellerisch dilettierendes Kollektiv, sondern als zivile Einzelperson. Ob «Kanal Kirchner» oder «Brunswick Airport»: Das schlichte Prinzip dieser theatralen Spaziergänge besteht darin, dass der Zuschauer über Kopfhörer ortsspezifische Informationen erhält – nicht zuletzt die, wohin er wann gehen und schauen soll. Damit wird das Theater, obschon räumlich flexibel, ganz auf den Kopf und die Wahrnehmung des Zuschauers verengt. Dort findet es natürlich auch im konventionellen Theater statt – allerdings ohne das Gefühl, dass man diese Vorstellung exklusiv erlebt.
In «Call Cutta», dem jüngsten Projekt von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, lotst den Theaterbesucher weder ein vorproduziertes Tonband noch ein im HAU versteckter Performer durchs nördliche Kreuzberg, sondern eine indische Servicekraft, die 22.000 km weiter süd-östlich im «Infinity Tower» arbeitet, einem Callcenter im Wolkenkratzerformat vor den Toren Kalkuttas. Die Callcenterbranche boomt in Indien, weil immer mehr westliche Unternehmen ihren Telefonservice outsourcen. In Indien sind die Arbeitskräfte billig und so sprachbegabt, dass die Kunden in den USA oft gar nicht merken, dass ihnen kein Amerikaner, sondern ein Inder aus der Dritten Welt erklärt, welche Möpglichkeiten der Ratenzahlung es für ihr neues Auto gibt.
Vor dem Theater hat «Sammy» mich über Handy angerufen und gleich auf Deutsch gefragt, wie denn das Wetter in Berlin so sei. Dann lotst er mich durch die Hinterhöfe des sozialen Wohnungsbaus der achziger Jahre zwischen Hebbeltheater und Potsdamer Platz. Unser Weg führt über Spielplätze, U-Bahngleise und Parks, die über Kriegstrümmern angelegt wurden. Dabei dient eine merkwürdige Berührung von deutscher und indischer Geschichte im Zweiten Weltkrieg als roter Faden des Parcours, auf dem ich, von Sammy geleitet, schnitzeljagdartig immer wieder alte Schwarz-Weiß-Fotos entdecke, die den «Netaji» Subhas Chandra Bose in allen möglichen Lebenslagen zeigen: in einem Berliner Café, Hände schüttelnd mit Adolf Hitler, vor dem Symbol des indischen Freiheitskampfes, dem bengalischen Tiger. Wie Mahatma Ghandi wollte Bose Indien befreien, allerdings mit militärischer Gewalt. Deshalb suchte er Verbündete auf der ganzen Welt, die bereit waren, gegen die Engländer zu kämpfen, was zu so kruden wie sinnlosen Allianzen mit den Nazis oder den Japanern führte.
Dass Sammy, der noch nie in Belrin gewesen war, seine Wegweisungen und Geschichtsanekdoten entlang eines geschriebenen Konzepts spricht, ist offensichtlich. Aber stehen da auch die Komplimente über meine schöne Stimme drin? Die Frage, ob ich mich schon mal am Telefon verliebt habe? Das Geständnis, dass er gar nicht Sammy heißt, was nur sein Callcenter-Name sei, sondern Sagnik? Und ob ich ihm nicht eine E-Mail schreiben möchte?
Natürlich ist all das Theater. Aber doch eines, das im freudigen Bewusstsein, Teil eine globalisierten Welt zu sein, merkwürdig intime Momente produzieren kann. So kann es passieren, dass man ganz allein auf den längst überwucherten Bahnsteigen das Anhalter Bahnhofs steht, von denen aus die Züge nach Auschwitz gingen. Dort flüstert einem ein 23-jähriger Student, der gerade in einem Callcenter in Kalkutta jobbt, aus sehr entfernter Nähe ins Ohr, man solle doch die «drei Bäume mit den traurugen Augen» suchen – und dann sind sie da wirklich, drei Bäume, die traurige Augen haben. Schon für diesen Moment geht es ziemlich in Ordnung, mitgemacht zu haben.