Terror im "Deutschen Herbst"

"Endstation Stammheim" am Schauspiel Stuttgart

Von Roland Böhm/Heike Sonnberger

/ dpa

Die Siebziger sind wieder da: Die Bühnen in Stuttgart haben den "Deutschen Herbst", den Terror der RAF, den Schrecken von Entführungen und Ermordungen zurückgeholt. Die Zuschauer in drei vollen Uraufführungen bewiesen am Wochenende den offenbar extremen Bedarf in der Stadt, die Geschichte des RAF-Komplexes auch 30 Jahre danach noch zu verarbeiten. Die Projektwochen "Endstation Stammheim" starteten mit der Bühnen-Uraufführung des Romans "Mogadischu Fensterplatz" von Friedrich Christian Delius und der Uraufführung von "Liebe ist kälter als das Kapital" des Regisseurs René Pollesch. Außerdem feierte das Stück "Peymannbeschimpfung" Premiere.



So viele Ohrfeigen hat es auf der Bühne des Staatstheaters vermutlich noch nie gegeben. Immer wieder knallte es, denn sonst wirke so ein Schlag ja nicht echt, betonen die Schauspieler wieder und wieder. René Pollesch greift damit auf eine Szene im Film "Opening Night" zurück, in der sich die Hauptfigur dagegen wehrt, geohrfeigt zu werden. "Schauspieler werden nun mal geschlagen, das ist Tradition", wird sie zurechtgewiesen. Für Pollesch ist das der Schlüssel zur Frage, wie die Gesellschaft, wie das Theater mit Widerstand umgeht.



Was passiert, wenn sich Menschen nicht so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird? Und mit welchen Erklärungen wird dieser Widerstand neutralisiert? Das ist Polleschs Verbindung zum Terror im "Deutschen Herbst" - und zum Terror unserer Zeit. Vor mustergültiger Siebziger-Kulisse auf der Bühne sagten die Schauspieler erst 20 Minuten gar nichts und dann umso mehr. In rasend schnelle, stakkatoartige Dialoge packt Pollesch jede Menge Kapitalismuskritik, für ihn eine der Triebfedern des Terrors. Das Treiben hinter der Bühne wird über Video auf einer Leinwand sichtbar. Polleschs Stück verleiht das eine unglaubliche Geschwindigkeit.



Stuttgart stand im "Deutschen Herbst" vor 30 Jahren im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Stadtteil Stammheim saßen die Köpfe der RAF ein, dort fanden die aufsehenerregenden Prozesse statt. Dort sind auch der ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe beerdigt.



In der Bühnen-Uraufführung des Romans "Mogadischu Fensterplatz" holen Regine Wenig und Beate Seidel die dramatischen Tage der Entführung des Urlaubsfliegers "Landshut" und das Hin- und Hergerissensein der 82 Geiseln zwischen Hoffnung und Verzweiflung packend auf die Bühne. In welchem Spiel sind sie zu Schachfiguren geworden? Immer wieder drängt sich die Frage auf, wer ihre Gegner, wer ihre Verbündeten sind. Ein Kind spricht am Ende mit den Worten des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: Die Frage nach dem Sinn des Lebens, könne nur "im Bewusstsein jener Werte gegeben werden, auf die unser Staat gegründet ist".



Das Stück "Peymannbeschimpfung" beschäftigt sich mit der sogenannten Zahnspendenaffäre um den Stuttgarter Schauspielchef zur RAF-Zeit, Claus Peymann. Als er Geld für die Zahnbehandlung der inhaftierten RAF-Terroristen sammelte, erhielt er hunderte feindselige Briefe aus der ganzen Welt. Aus ihnen liest Peymann selbst per Video - im Rückblick spitzbübisch spöttisch - während das Publikum auf einer Leinwand die Wohnorte der Absender über interaktive Satellitenkarten besucht. Auf der Bühne führen derweil Mitglieder des Turnvereins Stammheim ihr Feierabendprogramm vor - und erzählen aus ihrem Alltag neben der Justizvollzugsanstalt.



Die Regisseure der Theatergruppe "Rimini Protokoll" verbinden die sorglose Banalität der Gegenwart mit polemischen Stimmen des Deutschen Herbsts. Der fröhliche Eifer der Stammheimer Hobbysportler reduziert dabei die obszönen Beschimpfungen ("Ihnen gehört eine Mistgabel auf den Kopf gearscht, dass die Socke platzt!") zu einem kreativen Wortfeuerwerk von Kraftausdrücken, über das das Publikum erheitert die Köpfe schüttelt.



Mit insgesamt 72 Aufführungen, Ausstellungen und Lesungen in drei Projektwochen setzen sich Künstler und Zuschauer in Stuttgart in den nächsten Monaten mit Themen wie Freiheit, Gewalt und Widerstand auseinander. Geplant ist auch eine Bühnen-Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Film "Die dritte Generation" und ein Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters mit dem Stück "Ulrike Maria Stuart" von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.


Projekte

Peymannbeschimpfung - ein Training