Von Joerg Jermann
24.05.2005 / Basellandschaftliche Zeitung
THEATER BASEL. Heute Dienstag findet im Foyer des Grossen Hauses eine Uraufführung statt, „Mnemopark“ von Stefan Kaegi. Die Kleinkamera fährt in einer Modelleisenbahn durch das Schweizerland.
BASEL / Mit einer Überraschung wartet das Theater Basel auf. Im Foyer des Grossen Hauses haben Modellbau-Eisenbahner und die Technik des Theaters eine mächtige, funktionierende Eisenbahnanlage aufgebaut, das Publikum sitzt auf gestuften Bänken gegenüber der grossen Treppe, in der Modellbahnanlage bewegen sich eine Schauspielerin, zwei Vertreter der Modulbau-Freunde Basel und zwei Lörracher Modellbähnler. Auf der Treppe steht eine grosse Leinwand, auf welche ein Film projiziert wird, der in einer Modell-Lokomotive entsteht, welche durch eine Miniaturschweiz fährt. Links befindet sich eine Art Bluebox, welche den passionierten Pensionisten Zeitreisen durch ihre Mini-Welt erlaubt, während denen sie selbst in den Massstab 1:87 schrumpfen.
Die Anlage kann sich sehen lassen, sie setzt sich aus zahlreichen Modulen zusammen, die Modellbahn fährt durch die verschiedensten Landschaften, Orte und Szenerien. Nachgebildet an den Böschungen stehen die Wohnhäuser der Akteure, alle Einzelbauten für sich massstabgetreu, aber in unterschiedlichen Grössenverhältnissen: Man findet ein veritables Huhn in einer Art Minigehege, das auch mal ein Ei zu legen gewillt scheint, die Bahn fährt unter einem Goldfischaquarium durch, vor einen schweizerischen Fleischberg mit Milchsee: Der staatlich geförderten Überproduktion wird ein Denkmal gesetzt, die schweizerische Landwirtschaft auf den Rahmen von Landschaftsgärtnerei hin hinterfragt.
Die Modelleisenbahner stellen sich dar
und Rahel Hubacher spielt mit
Stefan Kaegi ist ein eigenwilliger Theatermacher, der mit einem feinen, hinterlistigen Humor arbeiten kann. Stichworte zu seinen Arbeiten bisher: Einladung ans Berliner Theatertreffen letztes Jahr mit „Deadline“, er sucht den öffentlichen Raum und inszeniert gerne mit „Experten des Alltags“, mit Ready-Made-Darstellern. Kaegi arbeitet als Hörspielautor, als Performer, als Regisseur und arbeitet unter sogenannten „Labeln“ wie „Hygiene heute“ oder „Rimini-Protokoll“.
Er sagt zu Beginn unseres Gesprächs, er gebe gerne Auskunft zusammen mit René Mühlethaler, Mühlethaler ist pensionierter Eisenbahner, seit Jahrzehnten arbeitet er in der Freizeit mit seinen Kollegen an den Bahnmodulen und im Beruf konstruierte er richtige Lokomotiven.
Das ausserordentlich aufwändige und bewundernswerte Bühnenbild, die Modelleisenbahnanlage im Zentrum also, kann auch bei anderen Vorstellungen auf der grossen Bühne im Foyer eine Stunde vor Vorstellungsbeginn besichtigt werden. Die Zuschauertribüne hat die bildende Künstlerin Lex Vögtli erstellt, für die Videos ist Jeanne Rüfenacht verantwortlich und den Sound macht Niki Neecke, der auch mitspielt. Weitere Modulbauer und Selbstdarsteller sind Max Kurrus, Hermann Löhle und Heidi Louise Ludewig, sie erzählen von sich, von der Schweiz, von früher und von ihrer Passion. Rahel Hubacher vom Ensemble kann zur Thematik des Bauerntums in der heutigen Schweiz einiges beitragen, wuchs sie doch auf einem Hof auf, der im Laufe der Zeit viele Wandlungen durchgemacht hat.
Eine Reise durch ein „lokozentristischen Weltbild“
Zunächst erstellt das Team am Abend einen Landschafts-Dokumentarfilm: Es geht um die Frage nach der Funktion von „Landschaft“ in einer Zeit, in der das Produzieren von landwirtschaftlichen Gütern zu teuer geworden ist, in der aber die Schweiz daran festhält, dass mittels Subventionen die Verwaldung verhindert werden soll, dies mit Schutzzöllen etc. Es geht um die Frage, wie weit der Bauer zum Landschaftsgärtner mutiert ist.
Eine zweite Ebene handelt vom Erinnerungsspeicher des Modells: Beim Blick in eine Modellbau-Katalog sieht man etwa Sets von kleinen Figuren, von Kleinabbildungen der Realität, Polizisten in Plastikschächtelchen, Bauern, Arbeiter in Sechserpackungen. Das ist eine Art Archiv, ein spezieller Speicher. Daher der Name des Abends: Mnemopark.
René Mühlethaler betont, es gehe ihm und seinen Kollegen durchaus um die Darstellung einer heilen Welt am Rande der Bahngeleise, man wolle nicht jedes Problem nachzeichnen, das gebe es genug am Fernsehen und in der Welt draussen, er ziehe sich zurück in eine heile Welt, in die schönen Erinnerungen, die blieben. Stefan Kaegi nennt das lachend ein „lokozentristisches Weltbild“. Die in die Modell-Lok eingebaute Kamera dreht einen Film, welcher der Realität unglaublich nahe kommt, es sieht beinahe so aus, als könne man in einem wirklichen Führerstand durch die Schweiz fahren.
Die dritte Ebene des Abends ist die Biographie der Modelleisenbahner und von Rahel Hubacher, welche von sich erzählen, von ihrer Herkunft, von ihren unglaublichen und jahrzehntelangen Verbindungen zu „Bahn“, „Modell“, „Zeichnen“, „Konstruktion“, „Bauerntum“ und „Landschaft“.
Die vierte und wohl überraschendste Schicht ist das Thema Bollywood und Indien, Bollywoodfilme werden zunehmend in der Schweiz gedreht, die Schweizer Landschaft wird als paradiesischer Hintergrund genommen für indische Liebesfilme, die eine sublimierte Sexualität zeigen. Es darf da nicht geküsst werden, aber die Menschen bewegen sich in rosa Gewändern, tänzeln erotisch in Rot und benehmen sich sehr sinnlich. Mit all den kleinen Kameras in den Modell-Loks wird versucht, über eine mögliche indische Liebesgeschichte zu reden, wie sie in dieser Schweiz stattfinden könnte.
Eine Collage, eine Liebesgeschichte,
aktuelles Eisenbähnlen und Theater
Die Live-Verfilmung dieser Liebesgeschichte geht einher mit der Zeitreise in die Vergangenheit - und nicht zu vergessen: Hier wird eine Modelleisenbahn betrieben, niemand weiss genau, was wann zur reparieren ist, jeder Abend wird etwas anders verlaufen, die Modulbauer sind in Aktion, flicken vielleicht den Wasserfall oder stellen eine entgleiste Lok wieder in die Schienen, hängen abgehängte Wagen wieder an.
René Mühlethaler schildert die Entstehung des Abends, Kaegi habe alles an sich heran kommen lassen, man habe die Erzählungen der Teilnehmer aufgenommen und so nach und nach den Verlauf und die Szenen entwickelt. Es habe kein Drehbuch vorgelegen, das hätten sie alles fortlaufend selbst hergestellt. Das Material hätte am Anfang sicher vier Stunden gefüllt, dann wurde angepasst, zusammen gepasst, Kaegi habe mit allen Teilnehmern zusammen eine Entwicklung ermöglicht und durchgezogen. Kaegi: “Die Module mit der Bahn, der Film, die indische Liebegeschichte – das ist das eine: In der Bluebox geht es um die Erinnerungsreise, um den „Mnemopark“, wie das Stück heisst, als ziehe man Erinnerungen in den Focus, auf einen Operationstisch, zoome sie heran, überblende sie und kontrastiere sie neu.“