Staubsaugen unterm Minarett
Stefan Kaegis Doku-Theater "Radio Muezzin" bringt das Leben arbeitsloser Gebetsausrufer auf die Bühne
Von Colette M. Schmidt
28.09.2009 / Standard
Graz - Früher waren Muezzins oft blind, damit sie hoch oben auf ihren Arbeitsplätzen, den Minaretten, keinen Einblick in die Häuser hatten. Heute ist der blinde Muezzin Hussein Gouda Hussein eher eine Ausnahme in Kairo. Denn heute steigt ein Muezzin nicht mehr auf das Minarett, sondern singt seine Gebete in ein Mikrophon, wie er erzählt.
Hussein steht mit zwei seiner Kollegen auf einem großen dunkelroten Gebetsteppich, wie er sonst in Moscheen liegt. Hier bedeckt er die Bühne des Grazer Orpheums, auf der der Schweizer Stefan Kaegi mit Rimini Protokoll die Geschichten von vier Muezzins aus Kairo nach Gastspielen in Deutschland und in der Schweiz auch im Steirischen Herbst erzählen lässt, und zwar von ihnen selbst. Die Männer sind echt, ihre Geschichten sind echt - und ihre Jobs Vergangenheit.
Denn künftig soll es nur noch 30 Ausrufer für ganz Kairo geben, mit deren Stimmen via Funk 30 Stadtteile einheitlich beschallt werden. Das mag logisch klingen, wenn man bedenkt, "dass nicht jeder Muezzin eine gute Stimme hat", wie einer der Ausrufer dem Publikum erklärt.
Während er das erzählt, flimmern hinter ihm und seinen Kollegen Filme aus ihren jeweils eigenen Moscheen über die Leinwand.
Es mache auch Sinn, wenn man bedenke, dass manche Wohnhäuser gleichzeitig von vier Ausrufern und dann noch von den Glocken zweier Kirchen beschallt werden, aber: Es kostete fast 30.000 Muezzins ihre Arbeit. Auch wenn es für einige, wie für einen der hier Vortragenden, nur ein unbezahltes Ehrenamt ist - es ist ein Teil seiner Identität.
Die drei Männer erzählen aber auch von profanen Dingen. Während etwa der älteste einen langen Bart trägt - "wie der Prophet" -, erzählt ein besonders würdevoll aussehender ehemaliger Landwirt, er trage deshalb einen kurzen Bart, weil er sonst Pickel bekomme. Der vierte Muezzin fehlt. Er ist aufgrund interner Spannungen in der Gruppe ausgestiegen. Er ist nicht nur Vizeweltmeister im Koranrezitieren, sondern gehört auch zu den auserwählten 30. Seine Geschichte wird ohne ihn erzählt, sein Film läuft vor einem leeren Stuhl.
Radio Muezzin zeigt in unspektakulären Szenen fremde Lebenswelten, die gar nicht so fremd sind: Der Teppich muss gesaugt, Neonröhren müssen ausgetauscht werden. Der Abend kommt ohne jeden Anflug von Folklore, Kitsch oder Peinlichkeiten aus. Die Religion wurde außen vor gelassen - allein der Mensch zählt.
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