Von Valentin Wetzel
01.11.2001 / für spector cut & paste (#2), 2001
Formel 1 Rennen werden mit der Akribie von Laborversuchen vorstrukturiert. Strecke, Bolide, Fahrer und Team werden mit grenzenlosem Aufwand vorbereitet. Vor allem der Boxenstopp nähert sich einer Labor-Situation: nichts darf den Ablauf stören, der völlig darauf ausgerichtet ist, die Performance - des Boxenteams, des Gedächtnisses - optimal auszuagieren.
Gleichzeitig verlangt das Medienereignis nach "dramatischen" Elementen, die den Ingenieuren ein Greuel sind: unbeständige Witterung, Fahrfehler und Kampfansagen. Die Interessen der Ingenieure und des Publikums stehen einander diametral gegenüber: Windkanal versus Nordschleife, Labor versus Ungunstraum.
Den Begriff Ungunstraum hat die Geo-Soziologie bereitgestellt, um die Verwertbarkeit von Landschaftsräume zu klassifizieren. Gegenden mit hoher Artenvielfalt, Feuchtwiesen und Magerrasen sind in Bezug auf die Landwirtschaft ungünstig.
Die Bühne für "Kreuzworträtsel Boxenstopp" scheint weniger eine für die Darstellung von etwas, als vielmehr ein Podium für eine Benutzung und eine Leistung zu sein: Wie Formel 1 Pilotinnen bedienen sich die vier Darstellerinnen Hilfsmittel, die entwickelt wurden, um die Fahrt zu erleichtern oder überhaupt ihren guten Ausgang zu garantieren – Flaggensignale, Gehilfen, Griffhilfen, Gedächtnisstützen, Souffleuse. Das Stück bezieht seine Wirkung auch nicht aus der dramatischen Handlung, sondern aus einer Unsicherheit und ihrer Überwindung. Der Zuschauer bangt nicht mit Figuren, sondern mit den Körpern auf der Bühne und ihrem Gedächtnis. "Dramatisch" ist dieses Stück vielleicht weniger im Sinne der Germanistik sondern mehr der Sportredaktionen und Boulevardblätter. Denn die Bühnenmaschinerie operiert hier nicht nur fürsorglich, sondern hält auch Widrigkeiten bereit – neben Theaterregen, Geräuschkulissen und Spezialaufgaben grundsätzlich die, dass überhaupt Theater gespielt werden soll. Die Bühne als Labor - das Theater als Ungunstraum.
Ungunstraum war auch das Label eines Work-In-Progress von Helgard Haug, Daniel Wetzel und Marcus Droß, das zwischen 1995 und `98 rund 20 Arbeiten als sog. "Etappen" realisierte. Die ersten fanden noch auf Bühnen statt, bzw. in "Black-Box-Theatern". Die Bühne war in der Auffassung der Gruppe zunächst ein Raum der gerissenen Verbindungen zwischen Zuschauer und Performer. Zu Beginn jeder dieser frühen Aufführungen wurde der gesamte technische Aufbau der Vorführung dargestellt, der Schaltplan für die jeweilige Überbrückungsstrategie des Abends benannt. Es gab keine Rollen, keine Darsteller, keinen dramatischen Text - statt dessen ein Aufführungssystem aus Apparaten und Handlungen - Projektoren, Kameras, Klangmaschinen, Bewegungsmeldern Texten und Bildern. Aufbau und Ablauf dieses ‚Handlungsgenerators' variierten mit jeder Etappe. Seine Bedienung und Aufrechterhaltung wurde nicht von einer in Kabinen verschanzten Bühnentechnik sondern von den drei Performern auf der Bühne vorgenommen - "Mit etwas zu tun haben statt zu tun als ob" war eine der Maximen, "Proben versaut den Charakter" eine andere. Es waren Experimentier-Stücke, deren Laborcharakter aber nicht auf das Optimum ausgerichtet sein konnte, sondern im Rahmen einer ‚Testserie' stattfanden, deren Komponenten sich durch das Work-In-Progress ständig erneuerten und daher die Aufführungen stets auch mit der Sichtung des Labor-Inventars beschäftigt schienen. Bilder, Sätze, Klänge, Handlungen gerieten häufig derart fragmentiert aneinander, flüchtig und von eindeutigen Repräsentationen entbunden, dass man sich in einem semiologischen und semantischen Baukasten wiederfand: Beobachten, Selektieren, Ordnen, Überbrücken, Interpretieren beiderseits der ‚Vierten Wand'. Eine Zumutung, ein Ungunstraum, autoreflexives Metatheater für den produktiven Zuschauer, der sich als jemand wahrnehmen sollte, der wahrnimmt. Er fand sich in eine ‚Theatermaschine' involviert, in site-specific-theatre in der Black Box.
Das Spiel mit Regeln, Apparaturen und Modellen des Theaters innerhalb des Theaters führte das Ungunstraum-Projekt bald aus dem Theater heraus und in das übliche Areal "ortspezifischer" Arbeiten. Fußgängerbrücke, Staumauer, Schlossgarten, Archiv, Galerie etc. - in dem Maße, in dem Haug/Droß/Wetzel auf diese Räume und Knotenpunkte gesellschaftlichen Lebens zugriffen, traten sie selbst als Performer in den Hintergrund und operierten als Vermittler vor Ort an dessen Transformation für ein Auführungs-System.
Die "Etappe: Alibis" (1996) bespielsweise galt den 38 Blickrichtungen und Sichtachsen, des Parks von Schloss Rauischholzhausen bei Marburg, die aber seit dem 1. Weltkrieg verwildert und überwuchert sind. Die Aufführung war unterteilt in eine Aktion und ihre ‚Live-Übertragung'. Sie bestand darin, die vom Bauherren konzipierten Blickbeziehungen an den entsprechenden Standorten mit Hinweistafeln zu dokumentieren: "Jetzt sehen Sie die Allee zum Bismarckbrunnen und das Denkmal auf der Erdfeldwiese". Das Publikum jedoch befand sich in der Empfangshalle des Schlosses, wo zeitgleich ein Liederabend des örtlichen Gesangsvereins "Eintracht 1888 Rauischholzhausen" stattfand, mit Liedgut aus seinem Repertoire rund um den Garten und das Wandern. Das Schachbrettmuster des Bodens war zu Planquadraten des Parks umfunktioniert worden und wies durch Hinweistafeln die Standorte aus: "Hier stehen Sie auf dem Tuchweg beim Östlichen Ringweg". Drei Tafeln mit den Namen "Haug", "Droß" und "Wetzel" konnten darauf wie Spielfiguren von Standort zu Standort gezogen. Die drei Vorsitzenden des Chors führten zwischen den Liedern die Routen der drei Performer schrittweise vor, bewegten die ‚Spielfiguren' von Standort zu Standort und verlasen die dazugehörigen Blickbeziehungen: "Frau Haug befindet sich nun auf dem Tuchweg beim Östlichen Ringweg. Sie sieht die Allee zum Bismarckbrunnen und das Denkmal auf der Erdfeldwiese".
Als sichtbarer Teil der Aufführung blieb dem Zuschauer das Vexierspiel aus einem befremdlich-heimeligem Liederabend im hessischen Hinterland und der Echtzeit-Simulation einer formal strengen Aktion zur Inszenierung des Blicks, eingeleitet dadurch, dass Haug/Droß/Wetzel zu Beginn alle Hinweistafeln von ihren Standpunkten in der Halle einsammelten, damit in die Nacht aufbrachen und zum Ende der Aufführung mit leeren Säcken wieder eintrafen. Ob die Tafeln wirklich an den entsprechenden Stellen in den Boden gerammt worden waren, ließ sich erst am nächsten Morgen nachprüfen.
Die Mitglieder des Chors firmierten so als "Spezialisten" für den heimeligen Liederabend, so wie die vier Damen in "Kreuzworträtsel Boxenstopp" als "Spezialistinnen" für Alter angesehen werden können. Doch das erstaunliche ist - und das haben die Ungunstraum-Etappen mit den späteren Arbeiten von Haug, Droß und Wetzel sowie den Kollegen von "Hygiene Heute" gemeinsam, dass es ihnen gelingt, einen Sozialvoyerismus gerade dadurch zu vermeiden, dass sie mit dem voyeuristischen Impuls, von dem kein Zuschauer frei ist, arbeiten. Er wird aufgegriffen und benutzt. Das ist Teil einer theatralisierenden Strategie, die versucht, Personen, Räumen, Themen den jeweils geeigneten Rahmen für ihre Artikulation zu geben. Und dieser Rahmen gestaltet sich nicht von ungefähr oft trocken konzeptuell und streng. Im Schloss von Raischholzhausen luden sich die Rekonstruktion der Blickinszenierungen und der traditionelle Liederabend gegenseitig auf. Es scheint kaum vorstellbar, dass entweder das eine oder das andere allein das Publikum in seinen Bann hätte schlagen können. Doch hier wurde das Konzept der Enthüllung einer bestimmten Landschaftsinszenierung durch den Ablauf des Liedervortrags und den Habitus des Chors rhythmisiert. Und umgekehrt entfaltete dessen Repertoire durch die Einbettung in die Performance eine überraschende Assoziationsfülle, die nicht bei den Entwürfen von Heimat und Landschaft stehen blieb. Zur Geltung kam auch die Selbstdarstellung eines bestimmten Millieus, die Artikulation von sonst völlig marginalisierten Personen. Mit dem Vorschlag, diese Arbeitsweise "personnes trouvées" zu nennen, erntet man bei den Machern allerdings Stirnrunzeln und Zähneknirschen. Denn die Aufmerksamkeit gilt in gleicher Weise Räumen und Strukturen. Und es geht erklärtermaßen nicht um die Zurschaustellung von etwas vermeintlich authentischem, sondern um ein Spiel mit der Wechselwirkung verschiedener Wirklichkeiten, der des Theaters mit der des Zuschauers, des Akteurs und des Raums. Es geht um eine Kooperation mit Spezialisten, "denn", so erläutert Helgard Haug, "wir stellen Leute nicht aus, sondern wir delegieren etwas an sie was sie besser können."