Speckkäfer und der eilige Tod

Theatertreffen Berlin: Schauspielhaus Hamburg »Deadline«

Von Gunnar Decker

13.05.2004 / Neues Deutschland

Die Speckkäfer, auch Heimchen genannt, stehen im Terrarium an der rechten Bühnenseite. Eine beunruhigende Ansammlung schwarzer Punkten die pausenlos durch den Glasbehälter kreisen, so, als suchten sie etwas.

Die Dekoration wechselt immer wieder, die Heimchen im Terrarium aber bleiben. Dreiundzwanzig sollen es sein. Speckkäfer sind wichtig auf Friedhöfen, sie helfen, Leichen zu zersetzen, sie sind nützlich. Ab und zu wird vor das Terrarium eine weitere Glasplatte geschoben; vom Dekorationswechsel bleibt bleibt hier niemand verschont. Was wir sehen, ist ein kurzes Stück über das Sterben. 90 Minuten lang. So lang braucht eine Leiche im Durchschnitt, um im Krematorium verbrannt zu werden. Der Tod hat eine profane Seite, die penetrant ist. Die Rückseite aller Feiertagsreden: die nüchterne Geschäftigkeit derer, die berufshalber mit dem Tod zu tun haben.

Das Rimini-Protokoll ist ein Theaterprojekt , das Grenzen verschiebt. Geht das noch, in Zeiten, da die Auflösung von Grenzen so alltäglich, so wahnsinnig machend konventionell geworden ist? Es geht, zeigen die Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (in Koproduktion mit dem Berliner Hebbel-Theater am Ufer). Der Chefdramaturg der Berliner Volksbühne, Carl Hegemann, ist auch im Publlikum und kann sich ansehen, wie das Prinzip Volksbühne mittlerweile auf allen deutschsprachigen Bühnen Wirkung zeigt. Während die Volksbühne selbst diese künstlerische Wirkung zu verlieren droht?

Der Tod hat es eilig. Darin gleicht er dem Leben. Eine Trauerrede jagt die andere. Memento mori heißt heute: Bedenke, dass dich niemand vermissen wird. Zu viele sind wir ohnehin schon.

Rimini-Protokoll professionalisiert das Zusammenspiel der Bühnen-Medien. Interaktiv nennt man wohl dieses Zusammenspiel von Video und live gesprochenem Wort (auch das immer mikrofonverstärkt). Die sechs Schauspieler sind Laien. Sie haben alle eine Biografie, die etwas mit dem Tod zu tun hat. Das professionelle Spiel mit dem dilettantischen Moment (das hier das authentische ist!) erfindet Theater hier und jetzt neu.

Man muss sich das vorstellen wie »Die fabelhafte Welt der Amelie«. Wieder Staunen lernen über die elementaren Dinge, die ja dem Leben erst seine Erotik geben. Wie klingt etwas, wie schmeckt es, wie fühlt es sich an? Was mag ich, was mag ich nicht? Mit dieser bezaubernden Jungmädchen-Naivität also widmen wir uns dem Thema Tod. Wie klingt er, wie fühlt er sich an, wie schmeckt er?

Jetzt wird es doch sehr ungemütlich. Im Hintergrund läuft ein Krematoriumsvideo. So genau wollte man das nun auch wieder nicht wissen. Aber – das Paradox beweist seine Bühnentauglichkeit – wie hier über den Tod geredet wird, das hat Charme und Witz. Und jene nötige Lakonie, mit der bestimmte Dinge allein sagbar sind, vor allem die persönlichsten. Der Tod ist der Feind des Lebens, denn er beendet es, löscht die Person aus. Das muss man erst einmal so stehen lassen, bevor man mit der übergreifenden Dialektik daher kommt und hinzufügt, dass der Tod des Einzelnen das Überleben der Gattung schließlich erst ermöglicht.

Der Tod ist ein großer Zyniker. Oder ist er bloß empörend sachlich? Alida, geboren 1974 in Hamburg, zeigt, was ihr vom Ballettunterricht in der Kindheit geblieben ist: einige Grundstellungen. Jeder neue Tag ist schon der Tod des alten. Was am Ende von den Anfängen bleibt ist vage Erinnerung, so wie sie die Überlebenden an Tote haben, wenn sie sich denn die Mühe machen, sich zu erinnern. Aber etwas ist anders: das Staunen. Das war ich?

Alida studiert Medizin. hat als Krankenschwester und als Leichenpräparatorin gearbeitet. Sie lebt mit neun Vogelspinnen und fünf Schlangen zusammen, wurde mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert, die sich als falsch erwies. Wozu längst vergangener Ballettunterricht doch gut sein kann: Sie zeigt, wie Schlangen den Kopf halten, wenn sie krank sind und wenn sie sterben. Denn immer wieder stehen wir inmitten der persönlichen Erzählung vor dem unpersönlichen Prinzip Tod.

Eine alte Krankenschwester aus dem Off denkt darüber nach, was die schlimmsten Tode seien. Gefäßverkalkung sagt sie. Da schreien sie manchmal tage- und wochenlang – und kein Morphium hilft. Bedeutende Worte Sterbender gibt es nicht, weiß sie, aber alle rufen sie einmal nach ihrer Mutter. Auch die ganz Alten. Keiner nach Lebenspartnern oder Kindern. Am besten hätten es noch die plötzlichen Herztode, die könnten gar nichts sagen. Eine Gnade, so ein Tod.

Und immer weiter kreist das Thema Tod durch Leben und Beruf derer, die auf der Bühne ihre eigenen Trauerfeiern ausrichten. Vor allem muss es schnell gehen. Eine Stunde muss für eine Trauerfeier reichen. Für ein ganzes Leben. Dann kommt schon der nächste Tote. Inklusive Auf- und Abbau. Dekorationswechsel wird dabei zur zentralen Frage der Logistik. Eine Musikerin spielt Geige bei Trauerfeiern. Die Trauernden sieht sie nur von hinten. Was sie sieht, will sie lieber nicht sagen. Aber bei ihrer eigenen Beerdigung will sie keine Musik.

Ein Steinmetz, ein Trauerredner, ein »Flammarium«-Initiator und der »Oberbilleteur« des Wiener Burgtheaters, der einmal Arrangeur bei der »Wienbestattung« war – sie alle stehen in dem seltsamen, fast komischen, jedenfalls immer skurrilen Zwiespalt zwischen bedeutsam-bürgerlicher Existenz und potentieller Leiche, die es schnell und diskret zu entsorgen gilt.

Wie bei »Hamlet« in der Totengräberszene das Zusammentreffen verschiedener Perspektiven auf ein und dieselbe Sache ungeheuerlich wird – hier ein modriger Schädelknochen, da das Bild der Geliebten, dem er gehörte –, so auch hier. Wir bekommen es einfach nicht zusammen. So viel Traum, so viel enttäuschter Idealismus, so viel vergebliche Anstrengung – und am Ende sehen wir per Video einen Sarg im Feuer verschwinden. Das letzte, was wir von ihm sehen, ist die Kreideschrift darauf: Eilt!

Die Letzten, die sich um uns kümmern: die Armee der Speckkäfer. Foto: Theatertreffen


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