So nett soll Berlin sein?

Wer sind die Berliner?, fragt sich das Hebbel-Theater zum hundertsten Geburtstag

Von Meike Hauck

03.02.2008 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Berlin. Auf dem Weg zum Hebbel am Ufer erklärte der Taxifahrer, dass er Berlin nicht besonders gut kenne, was in seinem Beruf nicht gerade von Vorteil ist. Man hätte ihn mit ins Theater schleppen können, einen Abend ganz ohne Schauspieler, mit dem Titel "100% Berlin - Eine statistische Kettenreaktion". Aber die BVG streikte, und er musste weiter.

Zum hundertjährigen Jubiläum hatte das Regiekollektiv Rimini-Protokoll eine Gruppe von hundert Berlinern versammelt, die nach den Kriterien Alter, Staatsangehörigkeit, Stadtteil, Familienstand und Geschlecht die Berliner Bevölkerung repräsentierten. Nacheinander kamen also Kinder, Hunde, Große, Kleine, Alte, Junge, Mittelalte, Deutsche, Deutsche mit Migrationshintergrund und ein Säugling (mit Mutter) in den großen grünen Kreis auf der Bühne, stellten sich vor und begannen, sich Fragen zu stellen. Die reichten von "Wer fühlt sich als Teil einer Minderheit?" über "Wer findet Berlin noch sexy?" und "Wer hat Angst, etwas von sich zu erzählen?" bis zu "Wer hat mehr als zehn Haustiere?".
Die Berlin-Repräsentanten auf der Bühne, von denen jeder für 34 000 Berliner stand, mussten sich bei jeder Frage dafür entscheiden, ob sie sich hinter dem Schild "Ich" oder "Ich nicht" aufstellen. Das war ein großes Gewusel, und die Ergebnisse der von oben abgefilmten und seitlich projizierten Verteilung waren nur teilweise verblüffend. Nur eine Person traute sich zu, die Welt zu regieren, eine recht große Gruppe dagegen fand, Pädophilie solle mit der Todesstrafe bestraft werden. Leider war die Frage nach der Todesstrafe auch die einzig wirklich provokante Frage des Abends, und es entstand vor allem der Eindruck, dass alle Berliner sehr nett und sympathisch sind - bekanntlich eine Täuschung. Statistiken sind eben nur Statistiken. Die Chance, eine tiefere Erkenntnis darüber zu vermitteln, welche Schicksale und Wahrheiten sich hinter den Zahlen einer Statistik verbergen, wurde weitestgehend verschenkt, und ein Stimmungsbild der durchschnittlichen Meinung zu brisanten und privaten Themen bot der gutlaunige Abend nicht. Aber es sollte ja auch nur Jubiläum gefeiert werden.
Das konnte man singenderweise tun, wenn man zum anschließenden Orchester-Karaoke blieb. Das vom Hamburger Theater Kampnagel übernommene Konzept geht so: Ein Orchester (in diesem Fall das Rias-Jugendorchester unter der Leitung von Jan Dvorák) spielt bekannte Popsongs, und wer will, kann auf die Bühne und dazu singen. Zur Auflockerung sang zu Beginn der ganze Saal einmal "Ruby Tuesday". Danach hatte die Masseneuphorie schon ihren ersten Höhepunkt erreicht, der im weiteren Verlauf von diversen weiteren Höhepunkten übertroffen wurde, die sich in großem Jubel und Applaussalven entluden, sobald jemand bewies, dass er einigermaßen singen kann. Völlig losgelöst sang man also im Chor Peter Schilling und als Zugabe "Moskau" von Dschinghis Khan und fühlte sich dann auch ein bisschen nach Gläser-an-die-Wand-Werfen. Eine an diesem Abend spontan erhobene Statistik brachte das Ergebnis hervor, dass Hamburger besser singen können als Berliner. Aber darauf kommt es beim Karaoke gar nicht an.


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