Sieg der Experten

Mülheimer Dramatikerpreis

Von Stefan Keim

04.06.2007 / Frankfurter Rundschau

Das ist neu: Mit der Gruppe Rimini Protokoll bekommen Theatermacher, die keine Autoren im klassischen Sinne sind, den mit 15 000 Euro dotierten renommiertesten deutschen Preis für Gegenwartsdramatik.

Rimini Protokoll besteht aus den drei Regisseuren Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi. Sie erarbeiten in wechselnden Konstellationen ihre Aufführungen mit Laien, die auf der Bühne ihre Erlebnisse erzählen, spielen, Einblicke in ihr Leben gewähren. "Experten" nennen die Theatermacher ihre Darsteller, denn jeder ist ein Experte für seinen eigenen Alltag. So holt Rimini Protokoll Realität auf die Bühne und verfremdet sie zugleich. Bonner Bürger sprachen zum Beispiel live mit Kopfhörern auf den Ohren eine Bundestagsdebatte nach . Dreizehnjährige aus Luzern erzählten in der Produktion Shooting Bourbaki - ein Knabenschießen von ihrer Begeisterung für Schusswaffen. Die Produktionen Deadline mit Experten für mitteleuropäische Todesarten und Wallenstein wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Nun versammelte Rimini Protokoll Menschen, die ihre Erlebnisse mit Karl Marx: Das Kapital. Erster Band berichten. Helgard Haug und Daniel Wetzel sind Meister der Montage. Sie verdichten die Erlebnisse ihrer "Experten" zu einem vielschichtigen Kaleidoskop. So spüren sie dem Mythos des Kapitals nach, fragen nach seiner Bedeutung im Leben, nähern sich auf witzige und berührende Weise dem Kern ihres Themas.

Aber sind die Aufführungen von Rimini Protokoll Stücke? Diese Frage wurde von der wie immer öffentlich diskutierenden Preisjury bejaht. Der Text von Karl Marx: Das Kapital. Erster Band ist über den Verlag Hartmann & Stauffacher erhältlich. Den Juroren war klar, dass sie mit der Wahl von Rimini Protokoll ein Zeichen setzen. Es gibt keine klare Trennung mehr zwischen Stücken, die Autoren vor Probenbeginn produzieren, und Stücken, die als Ergebnis eines gemeinsamen Arbeitsprozesses entstehen.

Damit öffnet sich das Mülheimer Stücke-Festival nicht nur der immer gängigeren Theaterpraxis, dokumentarische Formen auszuprobieren, sondern verändert auch den Textbegriff, der nicht nur im Theater immer noch der vorherschende ist, fundamental.

Überhaupt ist in den letzten Jahren der Trend auszumachen Jahre, dass sich neue Theaterstücke wieder gesellschaftlich relevanten Fragen zuwenden. Die Zeit der Nabelschauen scheint vorbei. Großes Lob bekamen im übrigen auch die Debütanten Darja Stocker (Nachtblind) und Dirk Laucke (alter ford escort dunkelblau) für ihre direkt und emotional geschriebenen Erstlingswerke. Große Würfe fehlen in der Gegenwartsdramatik, Lukas Bärfuss, Armin Petras und Elfriede Jelinek haben schon bessere Texte vorgelegt. Das hat den Weg für eine unkonventionelle Entscheidung der auf hohem Niveau diskutierenden Jury erleichtert.

Es ist mutig und richtig, mit Rimini Protokoll eine Gruppe auszuzeichnen, die mit ihrem Theaterkonzept genrebildend wirkt.


Projekte

Karl Marx: Das Kapital, Erster Band