Runter von der Bühne, rein ins Leben

Von Christof Siemes

04.07.2002 / Die Zeit, Nr. 28/2002



Vierzigmal Schauspiel und Tanz, dazu Ausstellungen, Symposien, Performances und ein Schwimmbad voller Mais: Das internationale Festival Theater der Welt machte sich in Duisburg, Düsseldorf, Köln und Bonn auf die Suche nach wahren Momenten

(...)


Im Parlament: Der frühere Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Helmut Kohl, trägt drei Ohrringe, kaut Kaugummi und lässt seine Tochter Lotta die Wandelgänge des Bundestages mit Kreide voll malen. Jedenfalls in Deutschland 2, der umstrittenen Parlamentskopie der Gruppe Rimini Protokoll. Ursprünglich wollte sie eine Sitzung des Bundestages in Berlin im früheren Plenarsaal in der Bonner Rheinaue doubeln. Doch der Hausmeister der Altimmobilie, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, sah die Würde des Parlaments in Gefahr und erteilte Hausverbot. Also muss die Kopie, die von der Realität des Theaters um das Zuwanderungsgesetz schon überholt schien, aus dem richtigen Leben zurückweichen ins Kunstreich, in die Schauspielhalle Bonn-Beuel. Hier ist die Regierungsbank zwar nur aus Sperrholz und der Bundesadler mit der 2 auf der Brust aus Plastik. Aber das Prinzip funktioniert wie geplant: Über einen Kopfhörer bekommen falsche Parlamentarier echte Berliner Reden live souffliert und sprechen sie nach, eine Kopie in Echtzeit von erschreckender Perfektion. Ohne rechte Übung beherrschen die Laien Duktus und Gestus der Profis aus dem Effeff. Eine Hand locker in der Hosentasche, lehnt das Alias des Verkehrsministers auf dem Rednerpult und spricht unfallfrei von Subventionswettlauf und Antistauprogramm. Dass sich das "nicht auf Knopfdruck übers Knie brechen lässt", hat das Berliner Original Kurt Bodewig zu verantworten, nicht sein Beueler Double. Auch der Blick ins Plenum ist ein einziges Déjà-vu: Die Reihen sind schütter besetzt; vornehmste Parlamentarierpflicht ist nicht Zuhören, sondern Zeitunglesen. Das Leben spielt auf den Gängen, wo das PolitBARometer "Westerwelle's Orgasm" anrührt: Tequila, Licor 43, Kokossirup, Sahne, Orangen- und Mangosaft.

Dass beim Kopiervorgang ein paar Daten verloren gehen, Herr Skoda nur mühsam hinter Wolfgang Gerhardts "trnsatlntischr Frrhndlszone" herkommt, macht nix. Syntax und Semantik des Polit-Diskurses sind jedermann geläufig, die unvollständigen Dateien reparieren sich von selbst. Der vernichtende Befund nach mehr als zwölf Stunden Kopistentum: Politiker spielen kann offenbar jeder.

Dabei ist das Festival gar nicht angetreten, die Politik zu denunzieren, sondern sie für die Kunst wieder auszugraben. Viele der fast vierzig Stücke sind, was man wohl politisches Theater nennen würde, wenn der Begriff nicht unter allerlei Fahnen, Staub und Brecht-Gesamtausgaben verschüttet wäre. Die Inflation der Selbstmordrate im neoliberal zugerichteten Argentinien ist so ein Thema. Oder das große schwarze Loch in der afrikanischen Erinnerungskultur, die sich mit den in die Sklaverei Verschleppten nicht befassen möchte. Diesen Frères sans Stèles, den Brüdern ohne Grab, widmeten in Köln drei Tänzer und ein Wassertrommelspieler aus Burkina Faso ein furioses Requiem.

So elegant, wie der Percussionist auf Kürbisköpfen klöppelt, führt Christoph Schlingensief seine Schläge nicht. Er ist der Virtuose des unorthodox geschwungenen Dreschflegels. Politik, sagt er, bestehe nur darin, Bilder zu produzieren, auf die der Gegner reagieren muss. Dieses Prinzip macht er sich für seine FDP-Attacke Aktion 18 zu Eigen. Das große Schlachtengemälde zieht er Möllemann über den Kopf, kippt allerlei Unrat - Federn, tote Fische, Walser-Romane - vor den Eingang von dessen Firma in Düsseldorf und fordert, von Polizisten und noch viel mehr Reportern aufmerksam beäugt, belauscht: "Tötet Möllemann!" Das Bild geht um in Deutschland, Jürgen W. Pawlow reagiert wie erwartet mit einer Anzeige, und so kann Schlingensief am Tag darauf in der Bad Godesberger Fußgängerzone unterm Partyzelt Mozarts Requiem und eine Kondolenzliste auflegen: "Wir trauern um Möllemann."

Doch allzu hastig ist der Schlag diesmal geführt. Das groß angekündigte "Möllemobil" ist nur ein Leihlaster von Europcar, und die Aufkleber mit Judenstern, FDP-Logo und dem Text: "Wer dieses Zeichen trägt, ist ein Feind unseres Volkes" werden auch dann nicht subversiver, wenn ihr Erfinder sie wortreich erläutert. Es gilt die alte Schlingensief-Formel: Je ernsthafter er seinen Eingriff in den Gesellschaftskörper erklären will, erklären muss, desto harmloser wird er.


Projekte

Deutschland 2 (Theater)