Von Barbara Behrendt
01.05.2014 / theaterheute.de
Als das Theaterkollektiv Rimini Protokoll 2007 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann, löste das noch einmal eine Grundsatzdebatte aus: Kann ein Stück, das mit sogenannten «Experten des Alltags» entstanden ist und auch von ihnen performt wird, bei einem Autorenwettbewerb als bestes Theaterstück ausgezeichnet werden?
Mittlerweile sind diese Kämpfe um die Definition eines Stücks fast schon überholt – Rimini Protokoll werden ebenso selbstverständlich nach Mülheim eingeladen wie René Pollesch. In diesem Jahr sind Helgard Haug und Daniel Wetzel mit «Qualitätskontrolle»zum zweiten Mal für den Dramatikerpreis nominiert. Darin erzählt die vom Hals abwärts gelähmte Maria-Cristina Hallwachs auf der Bühne selbst aus ihrem Leben. Heute gastiert die Produktion im Ringlokschuppen – einige Fragen vorab an die beiden Autoren und Regisseure.
Helgard Haug / Daniel Wetzel: Vor allem sind zur Zeit sogenannte Debatten im Trend darüber, was der Intendant der Festspiele gesagt hat. Und Debatten, in denen Antagonismen rekonstruiert werden, die es für uns in der Praxis so gar nicht gibt. Wir arbeiten schon seit zwölf Jahren so und mit jedem Projekt geht es uns auch um neue Facetten dieser Recherche-basieren Arbeitsweise. Und wir waren bestimmt nicht die ersten, und sind auch nicht die einzigen. Was immer wahre Zeitgenossenschaft sein mag, es gibt nach wie vor sehr viele gute Gründe, nicht nur im Zug, sondern auch am Schreibtisch zu schreiben. Das war auch so bei der Arbeit an «Qualitätskontrolle».
Aber erst recht! Wir nennen die Leute, mit denen wir arbeiten, Experten, damit sie nicht Laien genannt werden. Denn es geht um ihre Erfahrungen und das, was sie uns erzählen. Das wird zum Material eines Prozesses, bei dem es immer darum geht, wie wir damit und daraus Theater machen. Und dazu gehört selbstverständlich auch, wie daraus ein Text werden kann. Wir haben diesen Text für Maria-Cristina Hallwachs geschrieben, auf Basis vieler Gespräche mit ihr und Leuten aus ihrem näheren Umfeld. Aber der Text speist sich ebenso aus zahlreichen Begegnungen und Recherche-Gesprächen, bei denen sie nicht dabei sein konnte. Bei der industriellen Stecklingsproduktion, bei Getreidegenetikern, Familienberatungsstellen, Behinderten-Organisationen, Ärzten, Diagnose-Labors, Gynäkologen, Mathematikern und so weiter. Das war ein Arbeitsprozess von mehreren Monaten, in dem wir vor allem unsere eigenen Fragen geschärft haben. Außerdem entsteht so ein Text im Dialog mit anderen Projekten. Der Monolog «Black Tie» mit Miriam Yung Min Stein und die Hörspiel-Weiterentwicklung «Welcome to You» waren Projekte für uns, von denen aus wir weiter arbeiten wollten – ebenfalls mit einer jungen Frau im Zentrum. Die Texte entstehen gewissermaßen auf einen Mund ausgerichtet, dem sie angeboten werden. Der probiert das dann aus und reagiert auf den Versuch. Der Schreibprozess ist also eingebunden in Dialoge.
Anders gefragt: Was wären Dinge, die einer Auwahl-Jury das Interesse versauen würden? Und ist Nachspielbarkeit wirklich noch das Kriterium? Wie spielen Sie denn so einen Jelinek- oder Pollesch-Text «nach»? Wenn diese Dichotomie noch funktionieren würde – dann wären die Mülheimer «Stücke» doch ein Texte-Festival und keins, bei dem Inszenierungen eingeladen werden. Ein grundsätzlicher Unterschied unserer Stücke zu Dramen ist, dass derjenige, der auf der Bühne «ich» sagt, sich meist tatsächlich meint – und dass er den Entstehungsprozess des Textes kennt. Sollte jemand den Text spielen wollen, würde er wahrscheinlich nicht nur unser Einverständnis, sondern auch das von Maria-Cristina einholen wollen. Aber für uns ist das eine Scheindebatte – Theater bezieht seine Relevanz sicher nicht aus der Tradierung von Kunstproduktionstraditionen oder sobald es zu einem Stadelmaier-Museum wird. Es gibt im Theater aber diese oft sehr deutlich spürbare Distanz zwischen etwas Geschriebenem und dem Sprech-Akt, der es in den Raum transferiert, daraus Gesprochenes macht und mit dem, was man sieht in Beziehung setzt. Große Teile der historischen Schauspiel-Methoden bespielen diese Distanz ja, indem sie sie verringern wollen – indem das Geschriebene im Spiel aufgehen soll. Das ist eine Pendelbewegung in der Zuschauerwahrnehmung – und im Spiel – die es bei Stücken mit Experten auch gibt. Man hört ja oft deutlich, dass da Dinge nicht spontan gesagt werden, sondern gesprochen. Auch uns geht es darum, diese Pendelbewegung zu ermöglichen – das Geschriebene wird nicht einfach abgelesen – wenngleich es Maria-Cristina als Lauftext auf einem Monitor ständig zur Verfügung steht. Es soll, so weit das geht, gesagt werden. Der Text enthält einen Prototypen, der variiert wird. Zum Beispiel im Dialog mit dem Pfleger oder der Pflegerin, von denen immer einer auf der Bühne anwesend ist. Andere Passagen des Textes sind so geschrieben, dass sie eher gesprochen als spontan gesagt werden können. Insgesamt ist das ein Kunst-Text, der im Kontext seiner Verankerung entstanden ist, aber auch allein stehen kann.
Ja, für uns hat sich sehr zum Positiven verändert, dass mehr darüber gesprochen wird, worum es eigentlich geht und weniger immer nur um das Formale. Glücklicherweise müssen wir ja nicht entscheiden, was alles ein Stück sein darf, sondern können im Gegenteil fröhlich drauflosforschen, was für uns im Theater wichtig ist, womit wir unsere und die Zeit der Besucher verwenden wollen. Die jeweiligen akademischen Festschreibungen des Theaters sind sicherlich nicht seine Kraftquelle. Wir arbeiten daran, das auf der Bühne passieren zu lassen, was wir am wichtigsten finden. Und haben bislang die Erfahrung gemacht, dass die Leute, die noch ins Theater kommen, oder es gerade entdecken, sich mit den formalen Fragen nicht so beschäftigen. Wenn sich mal jemand über den Abend von der Text-Seite her unterhalten will, dann interessieren sich die Leute für den Prozess, wie der Text überhaupt entstanden ist. Das ist eh so ein bisschen Achziger, sich ums Theater Sorgen machen zu wollen, weil die germanistische Werkzeugkiste nicht die passenden Schlüssel zu haben scheint zu den Stücken, die gemacht werden.
So ein Projekt beginnt mit Ideen, Fragen, Gesprächen, provisorischen Bildern und dann damit, einfach loszulegen – Leute besuchen, Bücher lesen, die eigene Aufmerksamkeit wird gefiltert durch die Fragen und Geschichten, die da entstehen – die Welt sieht dann immer wieder anders aus. Und das ist eine Quelle für’s Festhalten, Notieren, dann Schreiben. Ein Ausgangspunkt war unser Interesse an Fragen rund um die Pränataldiagnostik. Aber es gab auch die Begegnung mit einem jungen Mann, der bei «100% Melbourne» mitgespielt hat, und das nur konnte, weil seine Eltern beide auch mitgespielt haben. Er hatte einen Unfall und dabei nicht nur seine Beweglichkeit, sondern auch sein Sprechvermögen stark verloren. Und es war toll, dass die Leute sich getraut haben, allen anderen zu vertrauen, dass die besonderen Umstände, die sie mit sich bringen, willkommen sind und dass alle an ihnen so interessiert sein würden wie an den anderen auch. Ein Ausgangspunkt war zum Beispiel die Idee, einen Dialog zu organisieren zwischen Leuten, die vorgeburtlich oder im Gang der Geburt eine körperliche Behinderung erfahren haben – mit Schwangeren. Daran hat uns auch interessiert, dass die Schwangeren naturgemäß nicht bei allen Aufführungen dabei sein konnten – wir also einen Text schreiben müssten für Leute, die wir noch nicht kennen: Handlungsanweisungen, Fragen, Spielstrukturen. Im Lauf vieler Gespräche, aber vor allem durch die Begegnung mit Maria-Cristina hat sich alles weiterentwickelt. Ein anderer Ausgangspunkt war, wie gesagt, unsere Lust, mit der für uns sehr wichtigen und guten Erfahrung mit «Black Tie» und Miriam Yung Min Stein den Monolog einer Frau zu erarbeiten, einen zweiten Schritt zu machen.
Nein. Das hören wir jetzt tatsächlich zum ersten Mal. Spätestens wenn man Maria-Cristina dabei sieht, wie sie die Zuschauer beim Reinkommen begrüßt, merkt man vermutlich, dass es wirklich nicht um Mitleid geht. Es geht um alles andere als das. Ums Leben-Können, Leben-Wollen, und um die Entscheidungen, vor die wir gestellt werden im Prozess des Leben-Zulassens oder seiner Abtreibung. Wir sind auch nicht aus Mitleid zu Maria-Cristina gegangen, sondern aus Neugier, aus Interesse und mit einem riesigen Sack unklarer Fragen. Eine Behinderung ist nicht nur einseitig – die meisten von uns sind komplett behindert im Umgang mit Leuten, die nicht alles so machen können, wie es der «Standardmensch» kann. Mit all der Unsicherheit und Vorsicht, mit der man jemandem im Rollstuhl begegnet, entsteht die Behinderung ja erst recht.