Reisen ins Nichts

Von Doris Meierhenrich

20.12.2021 / Berliner Zeitung

Kann eine Boing 777 spurlos verschwinden? 223 Tonnen schwer, 63 Meter lang, 18 Meter hoch, besetzt mit 239 Passagieren. Offenbar ja, nichts anderes passierte im März 2014 der malaysischen Maschine MH370, als sie kurz nach Mitternacht von Kuala Lumpur nach Peking abhob. Gut 40 Minuten nach dem Start war sie auf keinem Radar mehr zu finden. Etwas Erschüttertes, Ungläubiges schwebte damals durch die Berichterstattung, die keine Erklärung fand. Rettungsschiffe schwärmten durchs südchinesische Meer, empfindlichste Ortungstechnik tastete die Landschaft ab, doch kein Wrackteil, nirgends.
Ungefähr zur selben Zeit trat in Frankfurt am Main ein älterer Herr eine Reise an, die auf den ersten Blick wenig mit dem spektakulären Flug ins Nichts gemein hat. Es handelt sich um die ersten Anzeichen seiner Demenz. Und doch treffen sich diese beiden Ereignisse in ihren kaum vorhersehbaren, rätselhaften Abdriften darin: die Maschine Leben. Wie sich herausstellt, steuerte der Pilot das Flugzeug entgegen seiner Route mehrere Tausend Kilometer nach Westen. Und im Kopf des alten Mannes lagerten sich Sedimente ab, wo sie Nervenbahnen stören.
Dass die Fäden dieser beiden Ereignisse an diesem dunkle schimmernden Abend im HAU1 so behutsam und durchsichtig füreinander zusammen finden, verdankt sich dem so genau wie sensibel collagierten Text von Helgard Haug, deren Vater dieser ältere Herr ist.
Als Mitbegründerin von Rimini Protokoll, den poetischsten Realisten unter den Theatermachern, lässt sie auch diesen Text aus persönlichen Tagebuchnotizen und offiziellen Flugsicherungsprotokollen in schlafwandlerischer Sicherheit den hauchdünnen Grat zwischen Realität und Vorstellung abschreiten. Ja fast überschweben, denn in beiden Fällen driften faktische und gefühlte Realität immer weiter auseinander: Die Spurlosigkeit des Flugzeugs gibt Stoff für zahllose Spekulationen und hält die Angehörigen in fataler Hoffnung. Aber auch die exakten Schichtbilder des durchscannten Gehirns geben keinen Aufschluss über die immer diffuseren, doch auch menschlich klarer werdenden Erinnerungsfetzen des Vaters.
Helgard Haug macht die Worte selbst zu Hauptakteuren und lässt den Text zentral auf eine Gaze vor dem Bühnenportal projizieren. So ist „All right. Good night“ vor allem ein Leseabend geworden, dem die fantastischen Instrumentalisten des Zafraan Ensembles einen düster erzählerischen Sog verleihen. Zusammen mit der Elektromusikerin Barbara Morgenstern haben sie eine Partitur zum Text komponiert, die mit sphärischer Weichheit, bizarr gegeneinander laufenden Pingpong-Rhythmen und schräg-schrillen Polyfonien den Schmerz und die Sehnsucht beider Verlustgeschichten greifbar machen. Kein leichter Abend, aber eine dunkel elegische Textsinfonie, die dem Verlorengehen den Schrecken nimmt.

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All right. Good night.