Von Stefan Kaegi
01.01.2016 / Shannon Jackson, "Keywords anthology"
Yaoundé Mulamba Nkita war 9 Jahre alt und im Französischunterricht als er vor seinem Schulzimmer Schüsse hörte. Die Lehrer riefen: Auf den Boden, auf den Boden! Das war 1998 in Kisangani, damals Zaire, heute demokratische Republik Kongo. Einige Tage später war er mit Larent Désiré Kabila unterwegs nach Ruanda, wo er zum Kindersoldat ausgebildet werden sollte. Erst 5 Jahre später, nach Dutzenden von Morden und anderen Kriegsverbrechen, konnte Yaoundé aus seiner Rolle als Kindersoldat herausschlüpfen.
Für "Situation Rooms" hatte unser Bühnenbildner Dominic Huber ihm eine Ecke seines kongolesischen Schulzimmers nachgebaut. 10 Jahre nach der Eroberung Kinshasas probten wir mit Yaoundé das Re-enactment seiner Rekrutierung zum Kindersoldaten. In der einen Hand eine Kalaschnikov vom Filmverleih, in der anderen ein ipad Mini, ging Yaoundé noch einmal auf den Boden, hisste eine Fahne und öffnete eine Tür, so wie er es damals getan hatte. Sein improvisierter Text wechselte dabei unfreiwillig Satz für Satz von Vergangenheitsform in die Gegenwart und wieder zurück. Als würde er immer wieder durch ein Zeitloch in die Vergangenheit und von dort zurück in die Gegenwart fallen.
Unter dem Titel "Re-enactment" versammeln sich oft Tausende von Hobby-historikern, um mittelalterliche Schlachten nachzustellen. Sie achten dabei minutiös auf Kostüme und Requisiten. Mit jedem Zeichen wird das Vergangene am Ereignis betont. Und so wirken solche Re-enactments oft seltsam entrückt und irgendwie belanglos.
Parallel zu solchen historischen Re-enactments, gehen heute künstlerische Projekte in ihrer Zielsetzung weit über die historische Rekonstruktion hinaus, indem sie die live-Inszenierung der Vergangenheit und ihre Rekontextualisierung in den Vordergrund rücken. An Stelle von Ereignissen aus dem Geschichtsbuch geht es dabei oft um subjektive Erzählung, Erinnerungen von Randfiguren der Geschichte. Ereignisse, deren Nachbeben bis heute zu spüren sind.
Als Milo Rau 2009 mit rumänischen Schauspielern die Videobänder des Prozesses gegen die Ceaucescus nachinszenierte, wurde die Aufführung in Bukarest gerichtlich untersagt, weil die Nachkommen Ceaucescus gegen den Nachvollzug waren, und weil sie immer noch die Rechte an den Texten hatten, wie ein rumänisches Gericht entschied. Hier hatte ein Land offensichtlich mit der Geschichte noch nicht abgeschlossen. Zwischen der Geschichte und ihrem Re-enactmant war der Abstand noch zu klein.
In unseren Situtation Rooms spielte Yaoundé seine eigene Rolle nach. Seine Aufgabe bestand darin, die Situation von damals noch einmal nachzuvollziehen. Er wurde dabei nicht gefilmt, sondern er filmte selbst aus seiner Perspektive heraus den Boden, die Fahne, den Türknauf und seine Hand, wie sie die Tür öffnete. Gut möglich, dass er sich mit jeder Probe einen Schritt weiter von der Wahrheit entfernte. Historische Genauigkeit war nicht der Punkt.
Wie präzise hat wohl Jeremy Deller in seinem Re-enactment "Battle of Orgreave" den Minenarbeiterstreik in South Yorkshire rekonstruiert? Er liess den Konflikt unter anderem durch ehemaligte Beteiligte nachspielen. Dabei ging es weniger darum, was 1984 geschah, als darum, was 2001 mit Menschen geschieht, wenn sie noch einmal Thatcher Aera nachspielen. Viele ehemalige Minenarbeiter entschieden sich dafür, diesmal Polizist zu spielen. Und einige ehemalige Polizisten spielten beim Re-enactment auf der Demonstranten-Seite mit.
Yaoundé eignete sich seine Vergangenheit mit ihrer Wiederholung an. Und genau das ist wahrscheinlich der Unterschied zwischen einer historischen Rekonstruktion, die versucht, Vergangenheit wieder herzustellen - und dabei vergisst, dass die Beobachter und die Teilnehmer, selbst nicht in der Zeit reisen können, und einem Re-enactment, das die Vergangenheit in der Gegenwart konstruiert, das Vergangenheit in der Gegenwart erfindet.
Als Sergej Eisenstein 1927 in seinem Spielfilm "Oktober" mit tausenden von Statisten in St. Petersburg den Sturm auf den Winterpalast drehte, schuf er das Bild, das die meisten Nachgeborenen heute als Anfang der Oktoberrevolution im Kopf haben. Das Abbild der historischen Vorgänge überlagert die Realität. Und was kann die Realität anderes sein, als eine von vielen Erinnerungen an den Moment. So wie jedes Foto nur eine von hunderten von möglichen Perspektive vom Abgebildeten liefern kann. Aber die Monumentalität von Eisensteins Film monopolisierte die Vergangenheit.
Ich und meine Kollegen von Rimini Protokoll, wir sind Theatermacher. Der Grund für meine Gänsehaut im Anblick von Yaoundés Re-Enactment liegt nicht in der Vergangenheit sondern im Nachvollzug. Als Yaoundé beim Dreh zu Situation Rooms im März 2013 in seinem rekonstruierten Schulzimmer mit der Film-verleih-Kalaschnikov die Türklinke versuchte herunterzudrücken, stand im angrenzenden rekonstruierten mexikanischen Filmset-Friedhof Alberto, der als Administrator des Cuartels von Juaréz für den Transfer von Kokain in die USA zuständig war, vor den Gräbern von Menschen, für deren Tod er verantwortlich ist. Die Gräber waren nur aus Papp-Maché und darin lagen keine Leichen, aber die Erinnerung daran war in Albertos Gesicht als so echt zu erkennen, dass man kurz hoffte, er würde seine Vergangenheit bereuen. Doch dieses Reinactment war keine Therapiesitzung, keine Familienaufstellung. Das Ziel war nicht die Heilung. Im Gegenteil. Alberto stellte noch einmal die ganze Gleichgültigkeit gegenüber seinen Opfern nach. Dabei waren seine Taten noch so wenig verjährt, dass er nur unter einem falschen Namen auftreten konnte.
Hinter der nächsten Filmset-Wand drehten ein Rüstungsmanager aus der Schweiz, ein Bundestagsabgeordneter der Linken, der ehemalige Protokollchef der Münchner Security Conference und ein Arzt aus Sierra Leone Momente aus ihrem Leben so nach, dass sie für einen Moment lebendig oder nachvollziehbar wurden, nicht als Einzelschicksal, sondern als eines von 20 Puzzle-teilen in einem Modell des globalen Waffenhandels.
Bei Re-enactments steigen Zuschauer, Spieler, User oder Betroffene selbt noch einmal in eine fremde oder ihre eigene Haut. Das Resultat ist im besten Fall der Vergangenheit ferner als der Gegenwart. Fast schon ein Planspiel, das die Zukunft vorwegnimmt, um uns auf sie vorzubereiten.
Ein halbes Jahr nach dem Dreh mit Yaoundé beobachte ich eine Zuschauerin, die sich - mit dem ipad mini in der Hand, genau so auf den Boden kauert, wie Yaoundé. Sie folgt der subjektiven Kamerafahrt auf dem Bildschirm. Sie schaut auf den ipad mini, geht in die Hocke in einem kongolesischen Schulzimmer, das in einem Theater in Bochum steht, dreht sich zur Tür und zielt mit dem Bildschirm, vielleicht so, wie Yaoundé im Kongo mit einer richtigen Kalaschnikov gezielt hat. Sie verkörpert Yaoundé. Vielleicht. Ich weiss nicht, was in ihr vorgeht, aber plötzlich denke ich, dass diese zeitgenössische Form von Theater so nah bei der klassischen Dramentheorie von Aristotheles ist, wie es kein Theaterstück auf der Bühne sein kann: Identifikation und Katharsis. Nicht nur im geistigen, sondern auch im körperlichen Sinn.
Referenzen:
- Milo Rau / International Institute of Politica Murder: Die letzten Tage der Ceaucescus. Bukarest 2009.
- Jeremy Deller / Mike Figgis: Battle of Orgrave. 2001
- Rimini Protokoll: Situation Rooms. Ruhrtriennale 2013
- Sergej Eisenstein: Oktober. 1927
- History will Repeat itself. Strategies of Re-enactment. Ausstellung KW-Berlin. 2007