Von Thomas Irmer
01.04.2008 / Theater Heute
Nachdem schon die Bühnenversion mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, erhält nun das Hörspiel „Karl Marx: Das Kapital, Band 1“ von Helgard Haug und Daniel Wetzel den bedeutendsten deutschen Hörspielpreis. Eine Diskussion, ob das ein nachspielbares Stück sei, wie Kritiker zur Mülheimer Entscheidung anmerkten, wird es in diesem Fall aber wohl nicht geben.
In der Hörspielpraxis kommen Neuinszenierungen eher selten vor, obgleich zwei Beispiele dafür im diesjährigen Wettbewerb zu hören waren: So gab es eine Art Remake von Günter Eichs Nachkriegsklassiker „Träume“ durch insgesamt fünf Regisseure, im Auftrag des NDR zum 100. Geburtstag des Autors, das bei aller akustischen Opulenz kaum überzeugte. Einen weiteren Grenzfall stellte „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“ dar, die Alfred Döblin 1930 als eigene Adaption für das noch junge Medium schrieb. Das damals nicht realisierte Hörspiel stellte Kay Grehn nun in einer „Rekonstruktion“ vor (SWR/BRRBB), die trotz guter Besetzung in einer akustischen Welt von heute (mit Musik von Tarwater) nicht als Urinszenierung gelten kann – schon in den 60er Jahren hatte der DDR-Rundfunk Döblins Hörspiel produziert. In beiden Fällen wäre der Preis an einen lang schon toten Autor gegangen.
- Radiophone Expertenrunde
Karl Marx kann bei Rimini Protokoll freilich keine Autorenschaft geltend machen. Sein Buch, das zu den bekanntesten ungelesenen gehört, ist ja nur der Anlass für die Rimini-typische Expertenrunde, die sich darauf bezieht und es autobiografisch umkreist. Das Hörspiel (DLF/WDR, Dramaturgie Elisabeth Panknin) rückt den einzigen Wirtschaftswissenschaftler unter den „Experten“, den schrullig humorvollen Thomas Kuczynski, als Moderator nach vorn. Seine berichte über die unglaublichen Lesezeitlängen setzten Haug und Wetzel akustisch um, indem sie „Das Kapital“ lesende Mickymaus-stimmen ins Hochfrequente beschleunigen: schöne radiophone Gags in einem mehrschichtigen Hörspiel voller Parallelmontagen und raffinierter Motivführungen, das am Ende doch nach der Relevanz des schwierigen Buchs für die heutige Zeit fragen lässt. Dabei ist es zuallererst ein tolles Hörstück ohne Schauspieler, über dessen Dichte man sich noch bei wiederholten Hören erfreut. Dem möglichen, aber unbegründeten Vorwurf, nur eine Parallelversion der Bühne zu sein, begegnet das Hörspiel, indem es sich für einen Moment in eine Vorstellung von „Karl Marx“ am Zürcher Schauspielhaus begibt – um so die Differenz gleich selbst zu markieren.
In der Endrunde der letzten drei aus insgesamt 20 Hörspielen befand sich auch das Debüt Thomas von Steinaeckers, der in „Meine Tonbänder sind mein Widerstand“ (BR) die erfundene Biografie eines tonbandbesessenen Künstlers erzählt, die auf überraschend originelle Weise mit der inneren Geschichte der Bundesrepublik von den späten 60er Jahren bis in die 80er Jahre korrespondiert. Auch hier ist eine Mischform aus Feature (mit scheinbar gefundenen Ton –Dokumenten) und dem erzählenden Hörspiel am Werk, allerdings ist hier der ideale Hörer ein naiver, der das Spiel so lange wie möglich nicht durchschaut.
- Sozialkritische Stoffe
Die Sozialsatire „Etwas mehr links. Zehn Quickies für eine Nation mit rückläufiger Geburtenrate“ von Dunja Arnaszus (derzeit Dramaturgin in der Berliner Volksbühne) wurde ebenfalls heftig diskutiert. Dem Hörspiel (RBB) liegt die Idee zugrunde, dass Hartz-IV_Empfänger, wenn sie schon nicht zur Produktion beitragen, wenigstens zur Reproduktion herangezogen werden können. Die arbeitslose Erzieherin Antonia (Winnie Böwe) und der eine Lehrstelle suchende Tom (herrlich genervt Milan Peschel) machen mit bei der Initiative der Bundesregierung, die der irrigen Annahme folgt, dass die Nation ausstirbt, weil es mit dem Sex nicht mehr läuft. Also gibt es eine instruktive Broschüre und sogar Zuschuss für aphrodisiakisches Essen, aber auch Kontrolltermine beim Arbeitsamt. Das Stück ist flott ausgedacht und wunderbar inszeniert (Judith Lorenz), aber wie es Satiren so an sich haben, auch sehr eindimensional.
Jenseits des Finalistentrios dominierten sozialkritische Stoffe: In Thilo Refferts Science Fiction „Queen Mary 3“ (MDR) können sich im Jahr 2040 begüterte Senioren mangels eigener Kinder über eine Agentur Besuch buchen – der Markt kennt für alles eine Lösung, würde wohl Dr. Kuczynski kommentieren. Lothar Trolles „Stern über Marzahn“ (Deutschlandfunk) verlegt die Weihnachtsgeschichte in die Einsamkeit der Plattenbauten, was Klaus Buhlert sehr ambitioniert als Kommunikation in Wechselsprechanlagen und Anrufbeantworter inszeniert hat. Kai Hensel fragt in seinem neuen Hörspiel (Radio Bremen) nach „Glück im 21. Jahrhundert“ wo die ideale Familie in der „gated community“ vor allem unter Angst leidet – was nicht nur an Falk Richters letztes Stück erinnert. Das historische Doku-Drama als „Hörfilm“ war mit Gordian Mauggs und Alexander Häussers „Zeppelin!“ vertreten, in diesem Fall die wenig originelle Drittverwertung nach Film und Buch (gleichfalls Radio Bremen).
Dass Rimini Protokoll die eigene Methode fürs Hörspiel weiterentwickeln können, bewiesen sie auch mit der „Peymannbeschimpfung“ (Deutschlandradio Kultur), die den ehemaligen Stuttgarter Schauspieldirektor ironisch ins Zentrum setzt – ein Spaß vor allem für Theaterfans und Eingeweihte. Karl Marx dagegen kennen alle, und jeder ein bisschen anders. Und genau darum geht’s.