Plötzlich das Nichts

Ein Flugzeug verschwindet, ein Vater auch: Das als Roman deklarierte Theaterstück „All right. Good night.“ von Helgard Haug

Von Irene Bazinger

23.09.2023 / FAZ am Samstag

Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als „Experten des Alltags“ sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers „Wallenstein“) oder eines Rimini-Konzepts („Situation Rooms“) zu ergeben.

Dieser Methode entspricht nun mit „All right. Good night.“ auch das erste Buch von Helgard Haug, das als „Roman“ auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der ­Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte – und bis heute nicht gefunden wurde.

 

Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: „Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig.“ Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?

Nichts und niemand kann sich seiner sicher sein
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?

 

Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: „Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier.“ Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.

Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt „All right. Good night.“ trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Ver­gebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald – nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei ­allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen.


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Roman: All right. Good night.