Onkel Hos vergessene europäische Kinder

Rimini Protokoll lassen Vietnamesen von Deutschland erzählen

Von Caren Pfeil

09.10.2009 / nachtkritik.de

Dresden, 9. Oktober 2009. Ich sitze an der Theke im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden und rede mit meinem Freund über die Weltlage. Die Tanzfläche ist leer. Dahinter, im Dunkel des Foyers, haben die vietnamesischen Hauptdarsteller des Theaterabends die Musikanlage okkupiert. Ich höre fremde fernöstliche Klänge, dazu singt Nguyen Van Loi gefühlvoll in ein Mikrophon, Phung Hang Thanh greift sich ein zweites und mischt ihre Stimme mit seiner. Beide leben seit über 20 Jahren in Deutschland, zumindest mit der Musikauswahl schlagen sie Brücken in ihre Heimat. Einige ihrer vietnamesischen Bekannten stehen dicht vor ihnen und applaudieren.

Experten der eigenen Biographie

Dieses Bild in seiner Mischung aus Tristesse und Wahrhaftigkeit mag am Anfang der Beschreibung eines Theaterabends stehen. Dass "Grenzgebiet" die Vereinbarung dessen, was man gemeinhin unter Theater versteht, unterläuft, überrascht dabei wenig, steht doch das Label "Rimini Protokoll" für ein Theater, das, aus Versatzstücken von Wirklichkeit gebaut, auf Rollen, eine fiktive Fabel oder ausgestellte Ideologie - kurz: auf sämtliche Materialien einer herkömmlichen Theatralität verzichtet.

Die Biografien von Menschen werden lediglich dadurch vergrößert, werden dadurch zu "Theater", dass sie auf eine Bühne transportiert werden. Das Transportmittel ist so einfach wie überzeugend, denn die Träger der Biografien erzählen selbst; von sich, von ihrer Vergangenheit, ihren Hoffnungen, ihren Wünschen. Durchweg tragen die Nichtschauspieler Mikroports, damit sie ihre Stimmen nicht künstlich anheben müssen, um ihnen Bühnenpräsenz zu verleihen. Zudem verstärkt dieses technische Mittel die dokumentarische Wirkung der Performance.

Von Händlern und Gastarbeitern

Auf der Suche nach Lebensgeschichten, die im Kleinen das Spannungsfeld größerer politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge vermitteln können, sind Helgard Haug und Daniel Wetzel gemeinsam mit ihren Recherche-Mitarbeitern Sebastian Brünger und Karolína Svobodová fündig geworden im deutsch–tschechischen Grenzgebiet, wo sich vietnamesische Familien nach der Wende angesiedelt haben, um mit dem Handel zu treiben, was hinter der Grenze durch Steuern oder Lizenzgebühren überteuert, hier aber billig und dadurch gewinnbringend zu verkaufen ist, beispielsweise Zigaretten und nachgemachte US- Armyklamotten.

In Dresden wiederum haben sie Vietnamesen getroffen, die noch in den achtziger Jahren von der DDR als billige, dafür umso fleißigere GastabeiterInnen eingekauft worden sind, und die der Staat nach der Wende – trotz einer Ausreiseprämie von 3000 Mark - nicht mehr losgeworden ist.

Bei den vietnamesischen Familien aus Tschechien kommen die Kinder zu Wort, kaum älter als der Mauerfall, die Vietnamesen aus Deutschland sind mindestens eine Generation älter. Den so skurrilen wie tragischen Gegenpart bildet ein etwa 80 - jähriger ehemaliger Grenzoffizier der DDR, der in den Achtzigern zum Hauptbetreuer vietnamesischer Gastarbeiter abkommandiert wurde und diese Aufgabe, das belegen die akribisch geführten Maßnahmeprotokolle, mit ebensolcher Befehlstreue erledigt hat wie zuvor seine Tätigkeit an der Grenze oder bei der Ausbildung von Offizieren.

Zwischen Tragik und Komik wackelt das Weltbild

Manchmal wurde mir übel ob der Kommandosprache dieses Befehlsempfängers, manchmal konnte ich erleichtert lachen über dieses Faktotum überlebter diktatorischer Strukturen. Doch Geschichten zwischen Tragik und absurder Komik waren es allesamt, die die Helden des Grenzgebiets zu erzählen hatten. Da gab es Kinder, die einmal nur Onkel Ho (Ho Chi Minh) am Bart zupfen und von ihm Bonbons bekommen wollten, oder Erwachsene, die Helmut Kohl den "Vater des goldenen Regens" tauften, der über sie gekommen war, seit sie an den Segnungen des freien Handels teilhatten.

Vor allem aber erlebte man entwurzelte Menschen, die als Erinnerung an ihre Herkunft Pappversionen von den goldgerahmten Landschaftsbildern ihrer Kindheit mit auf die Bühne gebracht hatten oder, auch sie als Pappkameradin, die leibliche Mutter eines Mädchens, das in einer tschechischen Pflegefamilie aufgewachsen war. Dazu klangen die mit sanften Tenorstimmen vorgetragenen vietnamesischen Kriegslieder so poetisch wie finnische Heimatchöre. Und als diese Männer auf den zweikubikmetergroßen Holzkisten sitzend, die sie damals, gefüllt mit Mopeds, Fahrrädern und Zucker nach Hause schickten, weil das verdiente Ostgeld dort ja doch nichts wert war, "Über sieben Brücken musst du gehn" in vietnamesisch eingefärbtem Deutsch intonierten, wackelte das Weltbild schon mächtig.

Immerhin hatte man bisher von diesen Nachbarn nicht viel mehr gewusst, als dass, wo sie auftauchen, häufig eine Stange Zigaretten blitzschnell den Besitzer wechselt. Und dass die Tomaten bei ihnen billiger sind als im Konsum. Auf einmal stehen Biografien hinter ihnen, und das Theater wird für zwei Stunden ein Ort, der Wirklichkeit zu einem außerordentlichen ästhetischen Erlebnis vergrößert.


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