Von Jutta Baier
01.03.2006 / Strandgut
In der Schweiz leben etwas mehr als sieben Millionen Einwohner, es gibt genau so viele Hühner, viele Kühe, gute Schokolade und hohe majestätische Berge. Die Schweiz ist ein schönes Land, ja gemessen an Kolossen wie China oder Rußland ein Idyll, ein Puppenstübchen, stets ordentlich und aufgeräumt.
Teile dieser Schweiz befinden sich jetzt auf der großen Bühne im Theatersaal des Mousonturms, und zwar in Form einer Modelleisenbahnanlage, aufgebaut und betrieben von drei der Basler Modulbau-Freunde; kleine putzige Züglein zockeln da durch die unendlich liebevoll und maßstabsgerecht zusammengebastelten Miniaturwälder, rollen über Brücken, verschwinden in Tunnels und halten an Orten, die Bannwil heißen oder auch Paradies. Wir sind umringt von Schweiz an diesem Abend, auf den Leinwänden an der Bühnenseite prangt sie mit weißen, spitzigen Berggipfeln vor blauem Himmel, und auf die uns gegenüberliegende Leinwand werden dank einer Spezialkamera die Landschafen projiziert, die die drolligen Züge durchqueren.
So stehen die Zeichen in Stefan Kaegis verschmitztem Dokumentartheater, in dem die Akteure sich stets selbst spielen, ganz auf innigem Heimatabend: Die Welt ist so heil, wie wir sie uns immer wünschen und sie doch noch nie war. Nur paßt der Text, den Kaegi seiner »Mnemopark« genannten Spielschweiz unterlegt, immer weniger dazu. Ganz gemächlich - im Rhythmus gleichsam der gemütlich und nostalgisch surrenden Züge - verwandelt sich das Idyll in einen kleinen Horrorladen. Nicht daß der in Solothurn aufgewachsene Kaegi mit Zorn oder Polemiken über »seine« Schweiz herfallen würde; nein, sie wird nur nach und nach zu einem Teil der Welt, in dem das Heile sich als Fiktion oder auch (verkitschte) Erinnerung entpuppt und das Unheile leider Realität ist.
Immer mehr Zahlen und Fakten brechen über das Idyll herein, und sie verweisen auf eine Schweiz, die einerseits zum Schaden Schwächerer aggressive Mitspielerin im globalen Wirtschaftsmachtkampf ist, andererseits aber selbst Betroffene in dem Prozess der Zerstörung von Landschaft und der sozialen Umschichtung. Wenn Kaegi mit hintersinnigem Humor die Schweiz zum Drehort zuckriger Bollywoodfilme macht (die wegen der Kriegsverwüstungen tatsächlich nicht mehr in Kashmir, sondern vorzugsweise vor der Matterhorn-Kulisse gedreht werden) – spätestens dann wissen wir, daß die Schweiz, die wir im Kopf haben, nicht existiert, sie ist ein Ort jener Träume, den auch die Modellbauer vor Augen haben, wenn sie ihre Hüslis mit Geranien davor errichten, Berge aufschichten und Brücken über blaue Schluchten legen. Gegen solche Bilder kommt die Realität so leicht nicht an; sie ist schwer fassbar, und auch davon erzählt der Abend, wenn er mit Zahlen und statistischen Angaben widerlegt, was wir sehen und doch nicht hindern kann, daß die Zahlen am Ende verblassen, wir uns an das Alpenglühen aber sehr gut erinnern.