Von Andreas Klaeui
10.06.2008 / nachtkritik
Lausanne, 10. Juni 2008. Sie kommen aus Dubai, Solothurn, Moskau; ihre Eltern arbeiten bei Philip Morris oder Nestlé, oder es sind Flüchtlinge: moderne Nomadenkinder. Sie wollen vielleicht einmal Tennisspielerin werden oder Soldatin – da kann man viel reisen und wird gut bezahlt! Sie können aufzählen, was sie beim Umziehen schon alles verloren haben, die private Ecke in der Wohnung, Tennisschuhe, Großmütter. Sie haben auch das winzigkleine Babar-T-Shirt noch aufbewahrt, in dem sie als Adoptivkind in die Schweiz kamen; oder sie haben sich selbst schon mehrmals neu erfunden, "bei jedem Umzug eine neue Sprache: eine neue Person"."Airport Kids" nennen Stefan Kaegi und Lola Arias diese Kinder einer durchglobalisierten Welt. Mit neun kleinen Weltnomaden haben die beiden ihren neuen Theaterabend entwickelt. Sie kommen aus Marokko (Oussama Braun, 9), Irland (Patrick Bruttin, 12), China (Julien Ho, 8), Russland (Kristina Kovalevskaya, 10), Indonesien (Garima Manek, 8), Brasilien (Aline de Mello Morais, 9), Indien (Clyde Philippoz, 14), Italien (Juliette Scialpi, 7) und Angola (Sarah Serafim, 11).Der Urwald im GepäckcontainerJetzt sind sie zusammen in Lausanne als neue Theater-Freunde; und bald schon, Reflex der Globalisierung auch in den Produktionsbedingungen der Bühnen, neuerlich auf Achse zwischen Avignon, Berlin, Chur und anderen Tournee-Stationen. Und gleichwohl sind nicht alle beieinander: Das rumänische Mädchen, das anfangs auch mitmachte, musste zurück nach Rumänien, seine Familie ist "ausgeschafft" worden (wie man in der Schweiz sagt). Und Karima ist nur per Video präsent: Ihr Managervater wurde wieder nach Indonesien versetzt. Auch dies erzählt schon eine Geschichte.Einen Hangar hat Bühnenbildner Dominic Huber den "Airport Kids" in den Probensaal des Théâtre de Vidy gebaut, einen Raum für menschliche Fracht mit Containern, Kran und Luken in Kindertürhöhe. Ein schönes Spielangebot! In den Gepäckcontainern haben sich die Kids häuslich eingerichtet und ihre je eigene Welt erschaffen, mit Puppen oder dem Schlagzeug, als Urwald oder Astronautenkapsel. Und jetzt erzählen sie ihre Geschichten. Agadir – Dubai – Lausanne, Moskau – Los Angeles – Lausanne, Kerala – Avignon – Lausanne. Juliette möchte Stewardess werden, Julien eine Chinesenkolonie auf dem Mars gründen, Aline bis zu den Zähnen bewaffnet ihre eigene Privatarmee sein, wenn der Krieg kommt.Zerknüllt die Forschung!Es ist keine Phantasiewelt, von der diese Kinder reden; es ist unsere Welt. Aus ihrer Anschauung entwickeln sie die eigenen Utopien. Eine neue, einfache Einheitssprache; ein mobiles Haus; dass alle Kinder adoptiert werden und immer nach fünf Jahren die Eltern wechseln, so sind alle die Kinder von allen. Das Doku-Fiktions-Spiel Kaegi'scher (Rimini'scher) Prägung bekommt hier eine zusätzliche Facette, und es wäre vorschnell, sie mit "rührend" abzutun: die Spiegelung der erwachsenen Welt in einem kindlichen Blick.Natürlich hört der erwachsene Zuschauer manches anders, als das Kind es sagt, und die Dramaturgie des Abends ist auf solche Wirkung angelegt. Natürlich spielt das Kind, wie es wäre, erwachsen zu sein. Das Kunststück von Stefan Kaegi und Lola Arias besteht darin, dass die Kinder diese – vielleicht sollte man sagen: unschuldige – Perspektive auch an der Rampe noch bewahrt haben. Der Trick ist simpel: Sie spielen. Sie nehmen sich das Handbuch "Third Culture Kids" und reißen Seite für Seite heraus, zerknüllen all die schönen Forschungsergebnisse über ihresgleichen und plaudern stattdessen von sich; die künftige Tennismeisterin schlägt dazu die zerknüllten Statistiken wie einen Ball ins Publikum.Was wohl aus ihnen wird?Sie singen (tolle Songs!), sie fliegen bäuchlings am Kran, sie gehen wie die Großen mit Video um, und ganz bestimmt macht es nicht wenig Spaß, die Flugzeugcontainer auf Rollband und Wägelchen herumzubugsieren wie im Flughafen. Es ist schon bemerkenswert, wie Stefan Kaegi und Lola Arias mit den Kindern gearbeitet haben. Natürlich sind sich die ganz Kleinen ihrer Bühnenwirkung noch nicht ganz bewusst; die Größeren schon weit mehr. Aber es gibt kein Zwinkern ins Publikum, nichts wirkt aus erwachsener Perspektive aufgesetzt. Außer, leider, der Song zum Schluss: Wie sie da rockig posaunen, "Dans vingt ans", in 20 Jahren werde ich mich rächen, in 20 Jahren mache ich alles besser – das tönt dann doch mehr nach Theatermacherthesen als nach Kindermund.Viel schöner war, wie sie sich vorher selber in die Zukunft projizierten: mit 50 lasse ich mich scheiden, dann fahre ich zurück nach Moskau, mit 60 mache ich ein Lifting ... Denn das ist ja die Frage: Was aus ihnen wohl werden mag? Was für eine Welt sie sich erfinden?