Neulich im Theater

Warum muß Hamlet sich vor keinem Gericht verantworten, für seinen zweifachen Mord, an Polonius und an Claudius?

Von Cornelia Vissmann

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Außer in den Rechtswelten Kafkas wird Gericht am helllichten Tag gehalten. Der Prozess, von dem zu berichten ist, fand jedoch abends statt. Überhaupt durchkreuzte er alles, was man von einem Gerichtsverfahren erwartet. Eine Anklage suchte man vergebens. Auch ein Streitgegenstand fehlte und am Ende stand auch kein Urteil. Nicht einmal eine richterliche Ladung gab es, die den Prozess eröffnet hätte. Und gleichwohl handelte es sich um oder jedenfalls handelte dieser Abend von einem Gerichtsprozess. Geladen hatte ein gewisses Rimini-Protokoll, das seinen Hörern gleich den Schrecken einer Bildungslücke einjagte: war da nicht was mit Rimini und irgendwelchen Staatsverträgen? Das nachzuschlagen, blieb keine Zeit. Unter dem dringenden Aufruf "Zeugen!" wurden Zuschauer gesucht, so wie man Augenzeugen nach einem Unfall bittet, sich beim Geschädigten zu melden. Das geladene Publikum, das sich zu abendlicher Stunde am angegebenen Ort eingefunden hatte, wurde dann seinerseits Zeuge: Zeuge einer Metamorphose. Vor seinen Augen verwandelte sich der Bühnenraum eines Theaters in einen Gerichtssaal. Eine Person, die sich als Schöffin aus Frankfurt an der Oder ausgab, wies andere Personen an, den Saal einzurichten: … hier ein Stuhl für den Richter, davor eine Holzverkleidung, und davor ein Tischchen und ein Stuhl für die Zeugen, dort die Bank für die Staatsanwaltschaft, …. Die angewiesenen Personen, die sich ihrerseits der Reihe nach als Rechtsanwalt, Gerichtszeichnerin, passionierter Prozessbeobachter und Gerichtshelferin aus dem Berliner Strafgericht Moabit vorstellten, nahmen das allgemeine Stühle- und Tischrücken dann jeweils zum Anlass, um aus dem juristischen Alltag in ihrer Perspektive zu berichten. Wie zieht man eine Robe an und was bedeuten Samt und Seide bei den Robenbesätzen? Was machen die Prozessbeteiligten in den Gerichtspausen und wie sieht eine Gerichtszeichnerin die Angeklagten? … Soweit war das solides Aufklärungstheater und zugleich eine Ohrfeige für alle Fernsehgerichtsserien, die ebenfalls antreten, aufzuklären, wie es bei Gericht zugeht, nur um dann zur Hebung von Fernsehgerechtigkeit schon mal einen der deutschen Gerichtsbarkeit zugehörigen Richter ein Holzhämmerchen schwingen und Urteile im Namen des Gesetzes verkünden zu lassen. Gegen solche aus amerikanischen Filmen gerüchteweise ins deutsche Fernsehen herübergewehten Halbwahrheiten trat das Theater zum Gericht an. Akribisch genau hatten die Theatermacher recherchiert und mit hohem Sinn für die Codierungsstrategien des Gerichts hatten sie die Inszenierung vorbereitet — als sollte es ein Theaterstück zum Buch Zeichen, Prozesse des praktizierenden Richters und Rechtsemiotikers Thomas Michael Seibert von 1996 sein. Insbesondere das Kapitel IX "Räume, Gänge, Säle" erlebte an diesem Theaterabend seine dramatische Uraufführung.

Als Aufklärungstheater wäre dieser Abend allerdings kaum des Berichts wert. Dass die Inszenierung des Gerichts auf der Bühne des Theaters den inszenatorischen Charakter von Justizveranstaltungen hervorhebt, ist schließlich eine Einsicht, zu der uns nicht erst Rimini-Protokoll verhelfen musste. Stets exponiert ein auf die Theaterbühne geholter Gerichtsprozess seine Theatralität. Welches Stück hätte das je besser und listiger gezeigt als das Paradestück eines Theatergerichts-Theaters, Heinrich von Kleists Zerbrochner Krug mit seinem Perückentheater oder den dramatischen Ausführungen Marthe Rulls? Weil alle Orte, auf denen der Vollzug einer Entscheidung sichtbar wird, nach einem Lieblingswort des Barock Schauplätze sind — auch der Krieg und die Kanzlei, und später hat Freud dieses Wort für die psychoanalytische Szene entliehen — ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass an diesem Theaterabend Gericht und Theater so mühelos ineinander gespiegelt werden konnten. Auf dem Höhepunkt der Vorführung kamen sogar noch weitere Schauplätze hinzu. In rasanter Folge verwandelte sich der Bühnenraum in einen Gerichtssaal, ein Kircheninneres und eine Posthalle. Was diese drei Institutionen eint, bringt die Post mit ihren Schaltern in aller Wörtlichkeit, aber auch in aller Schmucklosigkeit auf den Punkt. Theatergraben, Gerichts- und Altarschranke: sie alle schalten. Sie haben Relaisfunktion. Ausgeschmückter geht es dort zu, wo Worte in aller Sichtbarkeit übertragen werden. Kirche und Gericht transferieren Worte schließlich nicht im Briefformat an einen anderen Ort, sie konvertieren Worte in Wahrheit.

Dass alles Theater ist, fällt gerade dem ins Auge, der die Wahrheitscodes nicht kennt. Denjenigen, die in die Regeln, nach denen sich ein Prozess vollzieht, nicht eingeweiht sind, stellt sich selbst eine Gerichtsverhandlung darum lediglich als ein theatrales Zeremoniell mit schwarzgewandeten Schauspielern dar, die sich nach einem nicht durchschaubaren Muster erheben und das Wort ergreifen. Man hätte sich einen Thomas Bernhard des Gerichtstheaters gewünscht. Stattdessen hat er mit seinen Kinderaugen ein anderes Schauspiel betrachtet. In seiner Autobiographie Ein Kind erinnert er sich bekreuzigende Komparsen und weihrauchschwenkende Assistenten und datiert folgerichtig seinen ersten Theaterbesuch auf diesen Kirchenbesuch. (Sein erstes richtiges Schauspiel scheint hingegen nur entfernt etwas mit richtigem Theater zu tun gehabt zu haben, fand es doch in einem Gasthof statt, wo der spätere Theatermann in einem vollgestopften Saal auf einem Sessel an der rückwärtigen Wand stand, um das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen).

Spätestens hier mag deutlich werden, warum der Theaterabend doch eine genauere Betrachtung verdient. Denn bei aller Vergleichbarkeit von Gericht und Theater beherrschte ein elementarer Unterschied die Doppelszene, ein Unterschied, der auch in der Aufführung unbenannt blieb und gerade darum eine Reihe von Irritationen auslöste. Das unscheinbare Wort "bloß" macht den ganzen Unterschied aus. Nach Kantischem Gebrauch des Wortes wäre ein bloßes Theater eines ohne Zwecksetzung, während das Justiztheater der Herstellung einer justiziellen Wahrheit dient. Bloßes Theater heißt freilich mit heutigen Ohren gehört "nur Theater". Diese Abwertung hat das Theater in dem Augenblick erfahren, in dem Spiel und Ernst radikal voneinander getrennte Sphären wurden. Anders als antike Tragödien, oder auch noch barocke Trauerspiele, die sich unter dem Aspekt der Performanz nicht von anderen Schauplätzen unterscheiden (in Athen fanden Gerichtsverhandlungen und Tragödienaufführungen sogar auf derselben Bühne statt), kommt mit der Opposition von Spiel und Ernst ein Gefälle in das einstmals zusammengehörende Paar Theater und Gericht. Die Folge ist, daß das bloße Theater dazu verurteilt ist, ein Theater ohne Folgen zu sein. Seine Performanz wird zur Darstellung degradiert. Auf der Theaterbühne werden nicht Taten mit Worten vollzogen, sie werden bloß gespielt. Das Gerichtstheater hat dann alle Hände voll zu tun, sich vom bloßen Spiel abzugrenzen.

An diesem Theaterabend, der die Kreuzungen von Gericht und Theater in allen denkbaren Konstellationen ausgespielte, ahnt man, was für einen ungeheuren Aufwand bedeuten muß, den die Justiz hinter den Kulissen betreibt, um ihr Nachspielen von Verbrechen vor der Verwechslungsgefahr mit bloßem Theater zu bewahren. Irgendetwas an den Codes, die üblicherweise das dramatische von dem forensischen Spiel selbst für Kinderaugen unterscheidbar halten sollen, stimmte nicht. Zwar standen die Zeichen eindeutig auf Theater-theater. Ein Vorhang ging auf und es wurde geklatscht. Doch war unsicher, ob das, was sich dem Publikum dann darbot, bloßes Spiel oder die Wahrheit des Gerichtstheater war. Dabei hatte man nicht einfach den ludischen Code des Theaters mit den verifizierenden Codes des Gerichts vertauscht. Die Sache war noch schillernder. Nachdem das Gericht aufs Theater geholt worden war, ließ sich nicht mehr ermitteln, wer als wer redete. Die Vorzeichen, unter dem die auf der Bühne des Theaters aufgebaute Gerichtsbühne stand, waren zweideutig. Worauf bezogen sich die Spieler, wenn sie agierten? Auf die Bühne oder das Gericht? Und: Gaben sie nur vor, zum Personal des Gerichts zu gehören oder waren sie wirklich Moabit-Insider? Auf welcher Bühne waren sie Laien? Man konnte entweder denken, für professionelle Schauspieler spielen sie ausgezeichnet nach, wie das Personal des Gerichts auf einer ihm fremden Bühne agieren würde. Man konnte aber auch denken, für Laiendarsteller spielen sie bemerkenswert professionell. Versprecher und Pausen hätten ebenso Element der Darstellung sein können wie auch tatsächlich spontan dem Sprecher unterlaufen. Rhetorisches Mittel oder authentische Rede, Verstellungskunst oder Unmittelbarkeit? Diese Leitfrage richterlicher Beweiswürdigung versetzte die Zuschauer in die Rolle des Richters, die in diesem Kammergerichtsstück wohl mit Bedacht unbesetzt geblieben war. Letzte Wahrheiten, die zu verkünden Richtern vorbehalten ist, waren hier nicht zu erwarten.

Wo der oberste Referent ausfällt, verschwindet die ebenso unsichtbare wie effektive Linie, die das Justiztheater vom bloßen Theater trennt. Die Zuschauer schwankten dann nicht allein zwischen der Frage Schauspielerei oder Professionalität hin und her. Ihre Verwirrung wurde noch gesteigert, als auf der Theaterbühne das beliebte Genre Gerichtsfilme zur Sprache kam. In Umkehrung der McLuhanschen Weisheit, dass ein neues Medium immer das vorangegangene zitiert, nahm hier das klassische Theatermedium auf das jüngere Fernsehmedium Bezug. Die Akteurin, die sich zu Beginn als Gerichtshelferin ausgegeben hatte, trat jetzt auf die Bühne, um von ihrer Teilnahme an einem Castingwettbewerb für eine Gerichtsfilmserie zu berichten, bei dem es wie beim Naturtheater von Oklahoma zugegangen sein muss. Die Frau hatte, so berichtete sie jedenfalls, eine Nummer im Fünfhunderterbereich gezogen, die ihr signalisieren sollte, wann sie an der Reihe war. Ob es stimmte, was sie erzählte, dass nämlich nach ihrem Vorspiel vermerkt worden sei, ihre Besonderheit sei ihr Berliner Dialekt, gut geeignet für authentische Zeugenauftritte — man konnte es nicht entscheiden. Dafür gab es in dem bereits entstandenen Wirbel von Authentizität und Theatralität schon keine festen Anhaltspunkte mehr. Bezeichnend oder doch zumindest gut ausgedacht war nur, dass der Fernsehredakteur mit einer gewissen Gier auf die Codes von Authentizität aus war und damit genau im Dienst des Mediums agierte, das so tut, als ob es unmittelbar dabei sei. Eine Technik von handlich kleinen und geräuschlosen Fernsehkameras es den Fernsehkameras spielt dem Bestreben des Mediums, seine inszenatorischen Anteile unsichtbar zu halten, überdies zu. Die kaum mehr auffälligen Fernsehkameras haben sich mittlerweile bekanntlich in die Gerichtsäle geschlichen, um das Geschehen vor Gericht live zu übertragen. Der Gerichtsprozess wird zum Sportereignis, das Duell seine Grundform. Auch Nachbearbeitungen von Gerichtsprozessen und selbst in Fernsehstudios produzierte Gerichtsfilmserien profitieren noch von dieser Live-Atmosphäre des Fernsehmediums. Das Gerichtstheater Zeugen!, das das Gerichtsfernsehen auf die Bühne zitierte, gab das Ziel des Fernsehens, möglichst lebensnah zu erscheinen, der Lächerlichkeit preis, indem es das Authentische jeder Rede selbst dramatisch inszenierte. Denn wer konnte bei diesem Gerichtsdrama noch behaupten, er wisse, was nah am Leben ist? Berichtete eine Theaterschauspielerin, die eine Gerichtshelferin spielt, von einem fiktiven Casting oder agierte hier tatsächlich eine Gerichtshelferin, die entweder wirklich bei einer Auswahl für Laiendarsteller für eine neue Gerichtsshow dabei gewesen war oder ein fiktives Ereignis auf die Bühne brachte? Macht es schließlich überhaupt einen Unterschied, ob jemand sich selbst oder einen anderen spielt und ob seine Rede außerhalb der Bühne noch Bestand hat?

Rimini Protokoll hat die Ambivalenz sichtbar wiederhergestellt, die im Gericht herrscht und die die Justiz so gründlich gemeistert zu haben glaubt, indem es kein Theater im Theater duldet. Bloß kein Theater, schleudert sie ihren Komparsen entgegen und bedient sich dafür notfalls der Sitzungspolizei. Eine kleine örtliche Verschiebung vom Gerichtsaal ins Theater und die säuberliche Trennung in bloßes Theaterspiel und den Ernst des Justiztheaters kollabiert. Am Schluss hatte eine ehemalige Angeklagte das letzte Wort. Das letzte Wort vor Gericht ist ein eigenes Genre. Hier soll jemand selbst sprechen. Er soll auch dann selbst das Wort ergreifen, wenn er im Prozess einen Fürsprecher, einen Verteidiger hat. So schreibt es Paragraf 258 Absatz 2 und 3 der Strafprozessordnung vor. Für das letzte Wort gibt es keine Stellvertretung. Der Raum der Repräsentation ist geschlossen. Das Schlusswort in eigener Zunge folgt keiner Regieanweisung. Keine Verfahrensvorschrift regelt diesen letzten Auftritt vor Gericht. Die eherne Diskursregel, dass alles vor Gericht Gesprochene zur Sache gehen muß, ist für diese Rede suspendiert. Oder genauer gesagt: Die Sache des letzten Worts umfasst das ganze Leben. Auch eine Höchstdauer der Rede ist nicht vorgeschrieben. Hier soll alles gesagt werden können. Das letzte Wort lässt Raum für das, was in der strikten Choreographie des Verfahrens keinen Platz hat, Raum für das, was aus Sicht des strengen Rechts das Menschliche ist. Das Recht leistet sich diesen Luxus. Auf die Freiheit des letzten Worts folgt schließlich, formal betrachtet, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 2 die Unfreiheit seines Sprechers.

Die Angeklagte, die an diesem Abend das letzte Wort hat, spricht, was sie damals im Gerichtssaal gesagt hat und man hat hier erstmals und einmalig während des gesamten Theaterbesuchs die Gewissheit: hier spricht keine Schauspielerin. Nicht etwa, weil sie ihre Sätze so holprig hervorbringt, wie man es von einer Laiendarstellerin erwartet, sondern im Gegenteil, wie diese letzten Worte bühnenreif gesprochen sind. Ergreifend. So spricht jemand, der seine eigene Haut retten muss. (Es geht, wie stets in letzten Worten, um bessre Aussichten und letzte Lebenschancen, die eine Verurteilung jäh zunichte machen würde.) Keine Rede ist von höherer Performanz, aber auch von höherer Authentizität als die letzter Worte, die ohne Fürsprecher geäußert werden. Absolut glaubwürdig und absolut theatral.


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Zeugen! Ein Strafkammerspiel