Von Siegbert Kopp
21.05.2005 / Südkurier
Da sitzt man knappe zwei Stunden im Basler Theaterfoyer und schaut vier Rentnern zu, denen ihr Hobby zum Lebensinhalt wurde. Vor uns erstreckt sich die Landschaft einer Modelleisenbahn von etwa zwanzig Quadratmetern. Vier passionierte Modelleisenbahner von den Modulbau-Freunden Basel haben die große Welt im Kleinformat gebastelt - und gehen darin förmlich und tatsächlich auf. Der Konstanzer Hermann Löhle (69) zum Beispiel erzählt: Seine erste Lok war eine T3, er hat zwei Gebirgsmodule und eine Flusskurve in die Modelleisenbahnlandschaft (Maßstab 1:87) eingebracht. Oder Max Kurrus (70), der gelernte Schlosser hat den Bahnhof Bannwil beigesteuert und auch sein Wohnhaus samt Nachbarn auf dem Balkon. Seine Spezialität sind Oberleitungen. Rene Mühlethaler (61) hingegen hat sich das Wallis und das Berner Oberland zum Vorbild genommen, und Heidy Louise Ludewig (68), gelernte StaWbauschlosserin, jetzt Textilentwerferin, baut am liebsten Phantasielandschaften a la Lummerland. Ist das jetzt Theater?
Bis auf die Profi-Schauspielerin Rahel Hubacher (30) vom Basler Theater sind es Laien, jedoch keine laienschauspieler, . sondern ausgewiesene "Spezialisten". Sie sind "authentisch". Aber mit der "Authentizität" ist das so eine Sache. Ein "echtes" Schweizerhuhn sitzt in einem Käfig, es stammt allerdings von einem indischen Rassehuhn ab und heißt "Import". An einer Lokomotive ist eine Minikamera eingebaut und lässt uns dieZugfahrt aus der Lokführerwarte auf einer leinwand mitverfolgen. Da geht es auf 37 Metern Gleis über Berg und Tal, über Brücken und an Bahnhöfen vorbei, es grüßen weidende Kühe und winkende Menschen. Viel zu schön um wahr zu sein. In diesem "ländlichen Modellversuch" irritieren immerhin ein Fleir;ch- und ein Butterberg. Dazu erfahren wir etwas über BSE- Krise, Landwirtschaftspolitik und die Bedeutung des Bauernstandes zur Erhaltung der Kulturlandschaft.
Eine Handkamera führt unter die Berge und zeigt, wie sie aus Drahtgitter und Pappmache gebaut sind, oder der Fokus geht porentief über die gelebte Gesichts-Landschaft von Heidy.
Live gemischt wird das Ganze von der Filmemacherin Jeanne Rüfenacht. Überhaupt sieht das Szenarium eher aus wie ein Film- oder Fernsehstudio mit Landschaftssimulation, Bluescreen, Lipstickkamera und einem Geräuschemacher (Niki Neecke). Da kann man als glücklicher Theatermensch ein Schneegestöber entfachen, Züge entgleisen lassen oder Petrol-Anlagen in die Luft sprengen. Dieser "Mnemopark" ist Erinnerungsfeld und Konstruktion. Um die Grenze zwischen Realität und Kunst, um künstliche Welten und Realitätspartikel, um inszenierte Wirklichkeiten und die WlIksamkeit von Inszenierungen im Alltag geht es in diesem Vexierspiel. Spannend zu verfolgen, wo die Schnittstellen sind. Wo die Modelleisenbahner nicht mehr erzählen, sondern anfangen, sich selbst zu spielen. Langatmig, wenn es nur um die Wirklichkeit eines Hobbys geht. Rührend die Anstrengung, eine künstliche Miniaturwelt zu basteln, während die neuen Medien die Welt viel perfekter simulieren und erweitern können.
Projektleiter und Regisseur Stefan
Kaegi, 1972 in Solothurn geboren, steht mit dieser verblüffenden Art von Doku-Theater nicht allein. Er gehört zur Theater-Aktionskunst-Gruppe "Rimini Protokoll". Beim Berliner Theatertreffen 2004 war "Rimini Protokoll" eingeladen mit "deadline": Sterbehelfer, Hospizschwester, Präparatorin und Flammarium-Unternehmer berichteten, wie sie Sterben und Tod in ihren Berufen wahrnehmen.
Auch hier waren Recherchen im Alltag dem Projekt vorausgegangen. Einen ähnlichen Weg verfolgt die österreichische Autorin Kathrin Röggla, 34, auf dem Gebiet ihrer Prosatexte. So sucht eine junge Generation von Schreibern und Theatermachern verstärkt den Konnex zur Wirklichkeit und zeigt zugleich, wo Wirkliches in Inszeniertes umschlägt. Ideologiekritik, die Spaß macht, weil sie sinnlich ist und nebenbei den wunderbaren Kauz in jedem Spezialisten entdeckt - nicht nur im Modelleisenbahner.