Von Arian Lemme
17.05.2010 / TAZ
BERLIN taz | Am Anfang sind wir nichts als kleine bunte Gummibälle. Wir sind soeben als Bürger von Bestland geboren worden. Gemeinsam mit 200 anderen Spielern blicke ich suchend auf die große Leinwand, die als Spielfeld dient, und versuche, meinen Ball unter all den anderen zu erkennen. Für die nächsten 90 Minuten ist er mein Avatar, meine Spielfigur, mit der ich mein Leben in Bestland bestreiten werde.
Mit Best Before hat die Gruppe Rimini Protokoll ihr erstes Computerspiel vorgelegt. Bisher waren Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel bekannt für ungewöhnliche Theaterprojekte. Die Nähe zum Theater merkt man Best Before dann auch an. Gespielt wird nicht vor den heimischen Rechnern, sondern kollektiv aus dem Zuschauerraum eines Theaters heraus, zuletzt im Hebbel am Ufer in Berlin.
Die Handlung
Will ich ein Mann sein oder eine Frau? Obwohl das Spiel mir hier die Wahl lässt, hüpfe ich schnell nach rechts und bin damit ab sofort ein weiblicher Ball. Wie wollen wir, wie will ich leben? Das ist die Frage hinter dem Spielprinzip: Runde für Runde gilt es, Entscheidungen zu fällen. Nach der Wahl unseres Geschlechts geht es zügig weiter zu ziemlich großen menschlichen Fragen. Manche davon werden nach dem Mehrheitsprinzip entschieden: Wollen wir alle dieselben Talente besitzen oder soll Vielfalt herrschen? Ist Abtreibung in Bestland legal? Was ist mit Heroin?
Andere Entscheidungen trifft jeder Spieler für sich: Will ich Mitgefühl oder Angst empfinden können? Lesen oder lieber Computerspielen? Nach den ersten Spielrunden ist die Pubertät mitsamt Alkohol, Drogenerfahrungen und erstem Sex abgehandelt. Ein paar der weiblichen Avatare sind bereits schwanger, sie werden ab jetzt von winzig kleinen Kugeln begeleitet.
In den nächsten 90 Minuten erleben ich und meine Mitspieler Arbeitslosigkeit, Krieg und Katastrophen. Bei Präsidentschaftswahlen wählen wir einen verantwortungslosen Despoten, den wir im nächsten Level sofort wieder ins Exil schicken. Schnell wird mir klar, dass humane Entscheidungen nicht vorteilhaft sind. Ich habe gegen ein Militär für Bestland gestimmt und komme bei Kriegsausbruch dafür sofort ins Krankenhaus.
Best Before handelt also von der Möglichkeit persönlicher und sozialer Utopien. Unterbrochen wird der Spielverlauf immer wieder durch eine Rahmenhandlung, die von vier realen Personen auf einer Bühne vor der Leinwand bestimmt wird. Sie moderieren den Ablauf und kommentieren ihn durch persönliche Anekdoten. Sie sind "Experten des Alltags", wie es bei Rimini Protokoll heißt.Das bedeutet, sie spielen keine Rolle, sondern stellen das dar, was sie auch im wahren Leben sind: Brady Marks etwa ist Programmiererin, sie hat auch das Game Design für Best Before geschrieben. Duff Armour war viele Jahre lang Spieletester für Electronic Arts, er erzählt von der Eintönigkeit seines Jobs und davon, wie er sich in seinem Großraumbüro durch einen Kaffeebecher unverwechselbar machte.
Sie alle leben in Vancouver, der Stadt, die Rimini Protokoll als Blaupause für Bestland diente. Denn Vancouver gilt als eine Art real existierende Utopie: Bei 2,2 Millionen Einwohnern, von denen 50 Prozent ausländischer Herkunft sind, herrscht nahezu Vollbeschäftigung.
Die Grafik
Optische Spielereien und Animationen suchen die Spieler hier vergebens - Bestland ist ein grafisch eher schlichtes graues Spielfeld, das links und rechts von zwei grünen Wänden begrenzt wird. Der Mangel an Details ist jedoch ein Vorteil, wenn alle 200 Spieler in Bewegung sind und zwischen den beiden Entscheidungspolen hin- und herhüpfen. Dann nämlich verliert man als Spieler schnell den Überblick und seinen Avatar aus den Augen. Eine Teilnehmerin neben mir gibt irgendwann entnervt auf: "Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo ich gerade bin!"Auf visuellen Schnickschnack wurde also aus gutem Grund verzichtet - Funktionalität geht hier definitiv vor. Mit seiner minimalistischen Ausstattung bleibt Best Before hinter den technischen Möglichkeiten seiner Zeit zurück, ermöglicht somit aber auch bei 200 Spielern noch einen flüssigen Spielverlauf.
Die extrem einfach gehaltenen Spielfiguren erinnern an den kugelförmigen und Pillen fressenden Pac Man aus dem gleichnamigen Spieleklassiker der Achtzigerjahre. Immerhin schafft es Bestland glaubwürdig, den Eindruck einer dreidimensionalen Welt zu vermitteln, und das ohne jeden digitalen Kleinkram.
Die Spielbarkeit
Die Avatare werden mithilfe eines Controllers angesteuert, wie sie bei Konsolenspielen üblich sind. Auch hier haben die Hersteller auf aufwendige Extras verzichtet und sich auf die eine gute Steuerbarkeit der wichtigsten Bewegungsabläufe beschränkt. Mit Pfeiltasten lässt sich das Laufen in alle vier Himmelsrichtungen steuern, ein Jump-Button lässt den Avatar munter auf- und abhüpfen.
Essenziell zur Verortung der eigenen Spielfigur im Getümmel ist daneben noch ein Knopf, der einen in seine Ausgangsposition zurückversetzt. Die simple Steuerung ist auch deshalb notwendig, weil die Zielgruppe von Best Before nicht unbedingt Vielspieler sind, sondern Menschen, die Computerspielen bisher eher skeptisch gegenüberstehen.
Die technischen Voraussetzungen
Best Before läuft weder auf Windows noch auf Mac oder Linux, bisher hat sich ausschließlich das System Theater als kompatibel erwiesen. Best Before funktioniert nur mit mehreren Mitspielern, und das ist Stärke und Schwäche zugleich. Zum schönen Spielerlebnis gehört die Erfahrung, Teil einer Gruppe zu sein und durch Entscheidungen deren Geschick mitbestimmen zu können. Die Steuerung ist sehr bedienerfreundlich, technische Probleme gab es in den Testspielen trotz der großen Teilnehmerzahlen und der aufwändigen Verkabelung nicht.
Die Wiederspielbarkeit
Nach nur drei Durchgängen am letzten Wochenende verabschiedet sich Best Before vorerst aus dem Hebbel am Ufer und tourt den Sommer über zu Theaterfestivals und koproduzierenden Theatern in Brighton, Toronto und Cork. Erst im Herbst wird es in Berlin vielleicht eine Möglichkeit geben, das Spiel auszuprobieren und sich auf die Suche nach dem eigenen Bestland zu begeben. Der Preis ist mit 16,50 Euro für 90 Minuten Spielzeit in Ordnung, für einen Neustart am nächsten Abend dürfte er den meisten aber doch zu hoch sein.Damit sind Rimini Protokoll dann doch wieder nah am wahren Leben, denn auch hier gilt: Wer am Ende seiner Tage feststellt, eine Menge falscher Entscheidungen getroffen zu haben, kann nicht einfach den Reload-Button drücken.Das FazitDie beiden Entwickler von Best Before, Helgard Haug und Stefan Kaegi, sind selbst keine passionierten Computerspieler. Wie schon in ihren Theaterprojekten interessierte sie auch hier eher eine neue Sichtweise auf unsere Wirklichkeit. "Es sind nicht so sehr die Spiele, sondern die SpielerInnen, die mich faszinieren", sagt Helgard Haug.
Best Before erzählt mit einfachsten Mitteln eine komplexe Geschichte, die wegen der vielen Entscheidungsmöglichkeiten immer wieder verändert werden kann. Jedes Spiel endet tödlich, aber ums Überleben geht es hier auch gar nicht. Spannend wird es immer dann, wenn kollektive oder früher getroffene Entscheidungen plötzlich über den weiteren Spielverlauf bestimmen. Best Before ist geeignet für alle, die ein Onlinerollenspiel gern mal offline und in Gesellschaft anderer ausprobieren möchten. Fans des Drachentötens kommen hier nicht auf ihre Kosten.