Marschieren oder: Ist das noch Theater?
Saarbrücken Eine der bekanntesten Gruppen, die bei den Saarbrücker „Perspectives“ dabei sind, ist das Kollektiv Riminiprotokoll. Wie viel Mut braucht man für „Walks“, ihre jüngste Produktion?
Von Silvia Buss
27.07.2021 / https://www.saarbruecker-zeitung.de
„Wie sieht die Ampel aus, vor der Du stehst?“, fragt die Frau in meinem Ohr. „Gibt es in Deiner Stadt schon Ampeln auf dem Boden für Smombies?“, will sie wissen. Nein, die Wohlfühlstimme ist keine Einbildung, sie kommt durch die Kopfhörer aus dem Smartphone online aus dem Internet und wird mich rund 20 Minuten beim Spazierengehen begleiten. Sie will mich an der Ampel dazu bringen, ruhig einmal etwas zu riskieren und bei Rot über die Kreuzung gehen, so wie Steff. Steff macht das konsequent immer und noch viel mehr erstaunliche Dinge, etwa zu Fuß im Dunkeln zur Arbeit im Krankenhaus gehen, mitten auf der Straße, ganz in Schwarz gekleidet. Steff wird mich begleiten, auf einem Gang durch Saarbrücken, bei Tag und mit Steff im Ohr kommt mir die Stadt plötzlich anders vor – und genau das ist Programm.
„The Walks“ nennt sich das neue Werk der bekannten Berliner Theatergruppe Rimini Protokoll, das bei den Saarbrücker Perspectives seine Premiere erlebt. „Weltpremiere“ sogar war laut Festivalchefin Sylvie Hamard der Test für Journalisten vorab wenige Tage vor der Festivalpremiere. Das weltweit aktive Kollektiv, das schon öfter beim Saarbrücker Festival zu Gast war, hat sich einen Namen gemacht durch ungewöhnliche Formate, die meist Fiktives mit Dokumentarischem mischen. 2008 etwa verfrachtete die Gruppe das Perspectives-Publikum in den Laderaum eines Lkws, der durch Saarbrücken fuhr und uns den globalisierten Obst- und Gemüsetransport vor Augen und Ohren führte. In diesem Jahr, da uns der Corona-Lockdown alle zu Spaziergängern vor der eigenen Haustür gemacht hat, hat sich das Team um Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel (gemeinsam Text und Regie) etwas sehr viel Minimalinvasiveres ausgedacht. „The Walks“ sind so etwas wie Kurzhörspiele ( Idee, Dramaturgie: Cornelius Puschke), die man sich beim Zufußgehen - allein oder zu zweit - ins Ohr stecken kann. Man kauft online einen Gutschein, lädt sich die zugehörige APP aufs Smartphone und kann zu den Audio-Walks aufbrechen, wann , wo und so oft man will. Bisher gibt es acht Audios, sie heißen „Aufbruch“, „Straße“, „Ampel“, „Kreisverkehr“, „Park“, „Theater“, „Supermarkt“ und „Friedhof“, was jeweils den Ausgangspunkt bezeichnet, von dem wir starten sollen, um teils ganz woanders hingeführt zu werden. Manchmal sogar in andere, weit entfernte Länder, zu den Protestdemonstrationen um den Instanbuler Gezi-Park zum Beispiel. Das Schöne ist: Kein Kurzhörspiel gleicht dem anderen, keines ist langweilig, jedes überrascht.
„Aufbruch“ etwa holt uns ab in unseren vier Wänden. Ein aufgewecktes Kind nimmt uns an die Hand und will uns durch allerlei Fragen und Aufträge helfen, das Gehen durch unser gewohntes Umfeld kindlich-spielerisch neu zu entdecken. In „Straße“ hingegen begleiten wir zwei Spaziergangs-Profis, die einander sehr viel über das Gehen, seine segensreichen Wirkungen und ihre Erfahrungen zu erzählen haben. Da neigt man schon mal dazu, sich lieber hinzusetzen , die Umgebung auszublenden und nur zuzuhören, denn die zwei verlangen volle Aufmerksamkeit. Zum Treffen an der Ampel mit Steff wird von der App sogar „das Tragen von Schuhen, in denen Du schnell laufen kannst“ angeraten. Und das ist auch gut so, da die erstaunliche Steff, eine für Rimini Protokoll typische „Expertin des Alltags“, ihre hörenden Begleiter zu echten sportlichen Anstrengungen antreibt.
Absoluter Höhepunkt unter den Audio-Walks, die man übrigens in beliebiger Reihenfolge hören kann, ist der „Supermarkt“, den man wie auch den „Park“ zu zweit besuchen muss. Am Supermarkt-Eingang wird man von dem ebenso charmanten wie gewitzten italienischen Choreografen Antonio Tagliarini empfangen, der uns zu heimlichem Tanzen im Konsumtempel anstiftet. Paradies oder Hölle? Auch das ist eine Frage, die sich hier stellen wird, bei diesem Partner-Shoppping zu Musik - man wird es nie vergessen. Danach wirklich noch freiwillig zum „Friedhof“? Nur keine Angst! Eine warmherzige Frau mit ihrer vom Leben angerauten Stimme, trägt uns mit sanftem und weisem Humor über die letzten Ruhestätten und verblüfft mit philosophisch anmutenden Fragen. Außerdem: mit dem beim Festival Perspectives erworbenen Code/Gutschein kann man „The Walks“ ab dem 29. Juli für immer und immer wieder nutzen, auch in anderen – derzeit noch in Arbeit befindlichen – Sprachversionen. Da könnte man sich theoretisch den „Friedhof“ auch noch etwas aufsparen. Oder mit diesem Audio auch einfach „fremdgehen“. Eines sollte man aber vorher immer checken: Das ist die Netzabdeckung. Ohne Internetverbindung kann man die Audio-Walks, bis auf die downloadfähigen Zweier-Stücke, leider ganz vergessen.
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The Walks