Von Serge Embacher
24.04.2002 / Kölner Stadtanzeiger
Schon vor 25 Jahren sprach der französische Philosoph Jean Baudrillard vom Verschwinden der Realität. Die Welt im Medienzeitalter ist uns nicht mehr unmittelbar gegeben. Folglich sind wir auf Zeichen angewiesen, die sie abbilden, simulieren. Was manchem aber gestern noch als gute Idee erschien, erweist sich heute als fatale
Strategie. Denn die Unterschiede zwischen Realität und Simulation werden unscharf.
Die Sorge um den Verlust der Realität muss auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse umgetrieben haben, als er kürzlich das Theaterprojekt „Deutschland 2“ im alten Bonner Plenarsaal untersagte. Vier Regisseure, beauftragt vom Festival „Theater der Welt“, wollen im Juni 666 Kandidaten zusammenbringen, um eine zeitgleich an diesem Tag anberaumte Sitzung des Bundestags in Berlin zu simulieren.
„Schlingensief, ick hör' Dir trapsen“, flüstert einem sogleich die innere Stimme ein. Doch beim Pressegespräch in der „Ständigen Vertretung“, einer Art rheinischem Bierbrunnen in Berlin, versichert Helgard Haug vom Regieteam „Rimini Protokoll“, dass es mitnichten um eine Ironisierung des Deutschen Bundestags gehe. Vielmehr sei die Frage: „Was ist der Ort der Macht?“
Siegfried Kolbe aus St. Augustin bei Bonn ist einer der Volksvertretervertreter. Er möchte gerne den grünen Abgeordneten Cem Özdemir geben. Denn Wünsche dürfen geäußert werden, solange der Vorrat an Rollen reicht. Kolbe ist vom Abgeordneten Ulrich Kelber (SPD) aus Bonn für einen Tag nach Berlin eingeladen worden, um ihn bei seinen Geschäften im Parlament zu begleiten. Kelber hat sich bei Wolfgang Thierse dafür eingesetzt, das Projekt doch im Bonner Plenarsaal zu gestatten. Was draus wird, man weiß es nicht. Als Ersatzort ist die Bonner Oper vorgesehen. Ob die Simulation dadurch irrealer wird oder die Realität dann vollends zur Simulation gerät, bleibt abzuwarten.