Lustvoll Herde werden

„Remote Bremen“ von Rimini-Protokoll führt per Computerstimme durch Bremen in neblige Höhen und in Randregionen des Menschlichen

Von Benno Schirrmeister

22.10.2017 / taz

www.taz.de

Zum Schluss des Audiowalks „Remote Bremen“ hat am Samstagabend doch die Natur ihren triumphalen Auftritt, dieses eine Mal noch, ein letztes Mal. Die echte Natur, nicht die menschengemachte vom Startpunkt des Buntentorfriedhofs, sondern die natura naturans, also die Sonne: Okay, sie macht auch nur, was Sonnen um diese Zeit halt tun. Sie geht unter. Es gibt in der Natur nichts Zufälliges.

Aber sie tut dies in einem Knallrot, als wollte sie mindestens diese Welt in Brand setzen. Und stiehlt so bei der Premiere dem Kunstnebel die Schau, der hier oben, über den Dächern der Stadt, das Ende des von Rimini Protokoll konzipierten Spektakels markiert, für das „Performance“ das vielleicht gängigere, aber sicher falsche Wort wäre. In diesen Kunstnebel entlässt die computergenerierte Stimme Peter das Publikum. Es sei jetzt so weit, es erkenne die Muster, es werde sich angemessen verhalten. Auch ohne unmittelbare Steuerung durch ihn. Als hätte man gerade ein Update bekommen.

Rimini Protokoll ist auf Einladung des Künstlerhauses am Deich zum Theater Bremen gekommen, und ein Gastspiel hier war längst überfällig; es steht in einer Linie mit den realitätssatten Produktionen, die Lola Arias in den vergangenen Spielzeiten hier verwirklicht hatte. Weltberühmt ist das seit 2003 in Berlin ansässige Autoren-Regie-Kollektiv, das theatrale Mittel nutzt, um nach Wirklichkeit zu fragen: Weltberühmt geworden ist es durch Inszenierungen nicht darstellerisch geschulter Menschen als Expert*innen ihres je eigenen Alltags, ihres Berufs, ihrer Kultur. Deren Selbstschilderungen fungieren dabei teils als Dokumente eben jener Praxis, aber oft zugleich auch als denkbar textferne, aber ungemein aktuelle inszenatorische Reflexion klassischer Texte wie Friedrich Schillers Wallenstein oder, vor zehn Jahren produziert, Karl Marx, Das Kapital. Erster Band.

„Remote X“ geht einen anderen, wenn auch auf komplizierte Weise verwandten Weg: Die Produktion ist ein Walk durch eine x-beliebige Stadt, Hannover und Berlin waren 2013 die ersten, Bremen ist Nummer 41, davor war im August Paphos dran, die Kulturhauptstadt 2017. Das Script des Rundgangs hat Rimini-Mitgründer Stefan Kaegi entwickelt. Jörg Karrenbauer stimmt es jeweils auf die Spezifika des Spielorts ab, ohne diese zum Thema zu machen: „Es gibt keine lehrreichen Informationen über spezifische Orte“, hat er vorab versprochen. Eher interessiere man sich dafür, wie Stadt konzipiert ist: „Eine Kirche ist etwas anderes als ein Bahnhof oder ein Krankenhaus.“ Banal. Aber der Einfluss der Funktionalität des städtischen Raums aufs eigene Verhalten, die Macht der Gestaltung, spiegelt, so ins Bewusstsein gerufen, die Macht Fernsteuerung, der sich die TeilnehmerInnen der Performance per Ticketkauf unterworfen haben.

Auf diese Weise wird der Weg durch die Stadt statt zum touristischen Event zur Gruppenreise nach innen. Er stößt, zwanglos zwingend auf Fragen nach der eigenen Endlichkeit, der Zukunft der Sterblichen in einer Welt der künstlichen Intelligenz, nach dem Verhältnis von Natur und Künstlichkeit – und dem von Fremd- und Selbstbestimmung: Bin ich denn wirklich bloß ein Mitläufer? Warum fällt es so leicht, zur Herde zu werden, und warum ist es letztlich so lustvoll, die Steuerung abzugeben?

Bis sich alles, die narzisstische Kränkung eingeschlossen, in Dunst und naturroten Kunstnebel auflöst, hat das Text-to-Speech-System die Gruppe geführt. Und die Gruppe durch Führung zusammengehalten. Die hat seine Anweisungen ausgeführt und sich nicht davon irritieren lassen, dass es erst als weibliche Stimme Julia, dann in Tenorlage als Peter das Kommando ausübt.

Die Gruppe hat die Straße auf das Zeichen überquert. Sie ist gerannt, als es gefordert wurde. Sie hat sich von der jubelnden Masse, die von der Tonspur direkt in den Kopf hineingespielt wird, angefeuert und motiviert gefühlt: Kaum möglich ist es, sich dem Sounddesign von Nikolas Neecke und Ilona Marti zu entziehen. Die Gruppe hat mit leisem Grauen die sarkastischen biopolitischen Kommentare des Automaten über sich ergehen lassen. Kein Protest folgt etwa der Bemerkung, dass man die Letzten des Rennens, wenn sie Maschinen wären, aussortieren würde. Der wäre ja auch ganz sinnlos: Menschlichkeit lässt sich vernünftig vom Apparat nicht einfordern. Sondern nur vom Menschen, der Apparate macht.


Projekte

Remote X