Von Stefan Keim
12.11.2011 / DIE WELT
Bühnenbürger dürfen in "100 Prozent Köln" unter der Regie von Rimini Protokoll tun, wozu sie Lust haben
Sie sind für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Vier von hundert. Es gehört Mut dazu, sich in der eigenen Stadt auf die Bühne des Schauspielhauses zu stellen und seine Meinung zu vertreten. Gerade wenn sie manchen provoziert.
Hundert Bürger stehen stellvertretend für ihre Stadt, beantworten Fragen nach Lebensgewohnheiten, Meinungen, Erfahrungen. Statistik live - die sonst in bunten Kurven und Säulen, in Grafiken und Diagrammen entpersonalisierten Ergebnisse bekommen hier Gesichter. Und man kann sich fragen, warum der alte Mann mit dem Rollator und die junge Frau im T-Shirt die Todesstrafe befürworten. Antworten gibt die Aufführung keine. Das ist ihre Botschaft. Statistiken versuchen, das Rätsel Mensch in Zahlen zu fassen. Die drei Theatermacher Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die das Performancekollektiv Rimini Protokoll bilden, lassen nicht davon ab, dass es immer Einzelne sind, aus denen sich die Masse zusammensetzt. "100 Prozent Stadt" nennt Rimini Protokoll sein Bühnenmodul, das 2008 in Berlin entwickelt wurde und nun in Serie geht. Wien, Athen, Vancouver und Karlsruhe haben sie auf diese Weise schon erforscht. Melbourne, Norfolk, Braunschweig und London folgen 2012.
Nur die erste Teilnehmerin wurde von den Theatermachern bestimmt: eine junge Frau. Sie hat ihre Mutter angesprochen, die ihre Freundin und so weiter. Die ersten haben noch freie Auswahl, für jene, die später dazukommen, wird die Suche schwieriger. Die hundert Bürger sollen in ihrer Zusammensetzung den aktuellen statistischen Werten der Stadt entsprechen. In Köln müssen 51 von ihnen Frauen sein, 39 katholisch, acht einen türkischen Pass besitzen, zehn aus dem Ortsteil Porz stammen. Diese "Bekanntenkreiskettenreaktion" - so nennt Rimini Protokoll den Arbeitsprozess - dauerte einige Monate. Dann gingen die Proben los. Am Beginn stellen sich alle hundert an zwei Mikrofonen dem Publikum vor. Was überraschend kurzweilig ist, weil sie sofort zu Repräsentanten werden, die Zuschauer Ähnlichkeiten mit sich selbst oder Bekannten entdecken. Jeder hat einen Gegenstand dabei, der ihm wichtig ist. Ein Umweltaktivist schiebt einen selbst gebastelten Sonnenofen vor sich her, ein anderer das Fahrrad, mit dem er einen schweren Unfall hatte. Die Alten entsprechen so gar nicht dem Klischee. Eine Dame hat ihre Spielkonsole dabei, eine andere meint, wenn man sie während der Übertragung eines Formel-1-Rennens stört, wird sie richtig böse.
Viele Kinder und ein weißer Wuschelhund rennen auch über die Bühne und spielen. Die Gruppe geht entspannt damit um, Perfektion will keiner und erst recht keine Show abliefern. Wie oft bei Projekten von Rimini Protokoll herrscht eine warmherzige Atmosphäre. Eine der Fragen lautet: Wer ist für Atomenergie? Da melden sich noch weniger als zu einer Wiedereinführung der Todesstrafe.
"100 Prozent Köln" ist etwas anderes als das gewohnte Konzept von Rimini Protokoll, in dem Themen wie Marxismus von "Experten des Alltags" beleuchtet werden. Diesmal gibt es weder Monologe noch Gespräche, der Abend hat eher den Charakter einer Spielshow. Mal tragen die Hundert farbige Fächer, die verschiedenen Antworten zugeordnet sind. Befragt, was Theater soll, halten die meisten die Farbe Grün hoch. Das heißt wohl: Sie wollen auf der Bühne repräsentiert werden. Rimini Protokoll spielt ironisch mit der optischen Aufbereitung solcher Umfragen, ein Meinungsbild entsteht. Dann müssen sich die Teilnehmer in die Bühnenmitte bewegen, wenn sie auf die projizierte Frage mit Ja antworten. Ein bisschen fühlt man sich da an die Kinderspielshow "Eins, zwei oder drei" erinnert. Aber vielleicht entsteht gerade dadurch die Stimmung, um unangenehme Frage stellen zu können. In Köln darf, wer will, auch mal demonstrieren und dem Publikum den nackten Hintern zeigen. Eine Frau aus dem Publikum fragt, ob die Bühnenbürger glücklich sind. Und fast alle Hände heben sich.