Von Dr. Ulrich Fischer
11.11.2011 / http://dr-ulrich-fischer.suite101.de/
KÖLN. „Rimini Protokoll“ nennt sich eine der originellsten freien Theatergruppen, die sich dem Realismus verschrieben hat. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die diesmal unter diesem Label zusammenarbeiten, versuchen, der Wirklichkeit näher zu kommen, indem sie nicht mit Schauspielern arbeiten, sondern mit „wirklichen Menschen“, mit Spezialisten für das Thema, das sie in den Mittelpunkt rücken. Für ihr Projekt „100 Prozent Köln“, das am Donnerstag im Kölner Schauspiel uraufgeführt wurde, arbeiteten Sie, wen wundert’s, mit Kölnern. Rimini Protokoll erklärten im Untertitel: „Eine statistische Kettenreaktion“. Das Theaterkollektiv hatte Statistiken über Köln zusammengestellt, studiert, einen Kölner ausgesucht und den dann gebeten, einen zweiten einzuladen; der Zweite eine Dritte und so weiter, bis hundert Kölner auf der Bühne standen, die den statistischen Durschnitt darstellen sollten. Im Publikum saßen natürlich Freunde und Bekannte und sie begrüßten die Hundert bei der Uraufführung am Mittwochabend im Großen Haus gleich als der Vorhang aufging mit lebhaftem Applaus. Der Abend wurde bis zum Ende von großer Sympathie getragen.
Abstrakt - Konkret
Da Köln 51 % weibliche und 49 % männliche Einwohner hat, waren 51 Frauen und Mädchen auf der Bühne und 49 Männer und Jungen. Das Alter spielt für Statistiker und Politiker eine Rolle, ältere KölnerInnen traten teilweise mit Rollator auf und der jüngste Kölner musste, als das Spiel begann, vor Aufregung weinen und von der Mutter getröstet werden.
Die meisten Kölner sind deutscher Abstammung, aber es gibt auch Afrikaner (wenig), Asiaten (etwas mehr) und auch einen Griechen. Als er seine nationale Identität entdeckte, gab es Gelächter, wohl politisch gemeint. Er nahm es mit der vornehmen Gelassenheit, die die edlen Achaier auszeichnet.
Der größte Abschnitt widmete sich der Vorstellung der Hundert. Gülay Güleryüz stammt aus der Türkei, sie lebt schon lange mit ihrem Mann in Köln und hat 25 Jahre im Kindergarten gearbeitet. Traute Stelzmann ist Studiendirektorin, die weißhaarige Dame ist längst in Pension und lebt allein im vornehmen Bayenthal. Die Zahlen der Statistiken, die das Programmheft zieren, bekommen Gesichter. Aber bei so vielen Zeitgenossen ist es unmöglich, sich alles zu merken. Ein Eindruck wird vom nächsten überdeckt und beim zehnten ist der erste fast vergessen.
Dann werden Fragen gestellt. Wer ist für die Todesstrafe? (Wenige). Wer meint, die Banken hätten zu viel Macht? (Mehr). Ein paar Augenblicke bekommen die Kinder die Bühne für sich und sagen einmütig, sie finden es ungerecht, dass andere bestimmen dürfen, wann sie schlafen gehen müssen. Viele Auftritte erwecken Heiterkeit. Einer tiefe Betroffenheit. Ein alter Mann resümiert sein schweres Leben in wenigen, ungelenken Sätzen: Krieg, Gefangenschaft in Russland, Kälte, Hunger, Todesgefahr, glückliche Rückkehr, Alter. Die Scheinwerfer heben Gruppen aus dem Ganzen, Videokameras vergrößern Porträts von Einzelnen, deren Bild auf ein Kreisrund projiziert wird (Bühne: Mascha Mazur, Marc Jungreithmeier, Video: Marc Jungreithmeier) . Häufiger gibt es Projektionen aus der Vogelperspektive vom Bühnenhimmel – so kommt das Spannungsverhältnis von Konkret Abstrakt in Bild, Hinweise auf die Statistik.
Ein Loblied der Vielfalt
Das Konkrete ergibt sich unausgesprochen: Es ist schlicht wunderbar, dass so viele Menschen mit so vielen Unterschieden friedlich miteinander, zumindest aber nebeneinander leben. Die Inszenierung ist eine einzige Hymne auf die Vielfalt, die Toleranz und ein Plädoyer, am Nächsten nicht gleichgültig vorbei zu eilen.
Einmal geht das Licht im Zuschauerraum an und wir, das Publikum, dürfen auch eine Frage stellen. „Wer ist glücklich?“ – Alle heben auf der Bühne die Hand. Ob das stimmt? Es ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen. Auch Problematisches kommt zur Sprache: Wer hat Arbeit? Wer war schon mal in Haft?
Die Produktion hatte schon in Berlin (mit Berlinern versteht sich) Erfolg und ist fürs nächste Jahr bereits in Melbourne gebucht und in London. Trotz aller Unterschiede dürfte eines gleich bleiben: Die meiste Sympathie fliegt den Kindern zu. Pia Aurelia aus der Südstadt ist unschlagbar. Sie ist schon 5, Kindergartenkind, lebt zusammen mit ihrer Mutter und bekennt: „Ich sage laut an, wenn mir was nicht passt.“