Von Von FOCUS-Redakteur Gregor Dolak
19.11.2007 / Focus
Der Zuschauer bewegt sich im Labyrinth der früheren Computerzentrale der Technischen Universität. Im ersten Raum üben V-Leute der Münchner Drogenfahndung Schießen. Im nächsten singt der Polizeichor. Im Stockwerk darüber spielt ein Scharfschütze der Policia Militar von São Paulo Kontrabass. Im Nachbarsaal erzählt die Telefondame vom zentralen Notruf der Millionenmetropole aus ihrem Alltag – gekleidet in ein Sambakostüm.
Die Polizei, dein Freund und Helfer. Das Blaulichtspektakel im ehemaligen Leibniz-Rechenzentrum stellt jedoch keinen Tag der offenen Tür des LKA dar. Hier stehen echte Beamte aus Bayern und Brasilien auf der Bühne des Lebens, die das Theaterfestival Spielart für sie aufgebaut hat. Fürs finale Duell ließ Regisseur Stefan Kaegi, 34, gemeinsam mit Lola Arias, 29, ein Indoor-Fußballfeld installieren, auf dem die Südamerikaner gegen die Süddeutschen kicken.
Ganz sportlich haben der Schweizer Theatermacher und die argentinische Autorin das gute alte Illusionsschauspiel im Sinne Shakespeares hinter sich gelassen. Doch dessen Leitspruch „All the world s a stage“ haben sich auch Kaegi und Arias zum Prinzip erkoren. Die ganze Welt ist ihre Bühne. Von dort holen sie die Darsteller ihrer Stücke.
Am Tatort München sind das echte Kommissare. In seiner Produktion „SOKO São Paulo“ gehe es „um die Rolle der Polizisten“, erklärt der Regisseur. Ob sie nun auf der Kreuzung gestisch den Verkehr regeln oder mit Kollegen Rollenspiele fürs Festnahme-Training inszenieren. „Der Text dieser Staats-Schauspieler sind Gesetze und Verordnungen. Ihre Kulisse ist die Stadt“, meint Kaegi.
Der junge Mann aus Solothurn zählt zu einer revolutionären Bewegung in der Theaterwelt: Zusammen mit Helgard Haug und Daniel Wetzel, beide 38, bildet Kaegi das viel gelobte Schauspielkollektiv Rimini Protokoll. Für seine Theaterprojekte holt das Trio stets „Experten der Wirklichkeit“ von der Straße auf die Bühne. Amateurspieler, die mit ihrer „Street-Credibility“ persönliche Episoden zum Thema der jeweiligen Inszenierung erzählen.
Am Schauspielhaus Zürich recherchierten sie 50 Jahre nach der Uraufführung von Dürrenmatts Komödie „Der Besuch der alten Dame“ Zeitzeugen, die über ihre Erinnerungen an den Premierenabend berichten. Für „Peymannbeschimpfung“ in Stuttgart wühlten sie im Baden-Württembergischen Landesarchiv nach den Original-Hassbriefen, die 1977 beim Direktor des dortigen Staatsschauspiels eingingen. Während die RAF-Terroristen in Stammheim einsaßen, hatte Claus Peymann für deren Zahnersatz Geld sammeln lassen und eine Welle öffentlicher Empörung provoziert.
Mit Volkes Stimme lesen heutige Schauspieler die entrüsteten Schreiben von damals. Während der reale Turnverein Stammheim dazu Leibesübungen praktiziert. Mit solchen dokumentarischen Inszenierungen huldigt die Theaterwelt ihrem derzeitigen Fetisch: der Authentizität. Fiktion war gestern – hoch lebe das lebendige Leben.
Entgrenzt soll die Bühne werden. Von allen formalen Limitierungen, denen das traditionelle Schauspiel unterworfen ist. Geöffnet soll sie werden. Weit über den Zuschauerraum hinaus in die reale Welt, welche doch die Bretter der Bühne angeblich bedeuten. Die Wirklichkeit übernimmt die Hauptrolle. „Früher im alten Theater ging es um die Authentizität des Schauspielers in seiner Rolle“, erklärt Kaegi, „diese Direktheit steigern wir mit echten Menschen.“ So erreiche das Theater „höhere Relevanz“.
Längst sind die experimentellen Gruppen aus der Off-Szene, die diese Real-Ästhetik prägen, in der Hochkultur angekommen. Rimini Protokoll erhält diese Woche beim Theaterpreis „Der Faust“ des Deutschen Bühnenvereins den Sonderpreis. „Sie setzen Wirklichkeit und Theater in ein neues Verhältnis“, lobt Ulrich Khuon, Intendant am Hamburger Thalia Theater. Das Münchner Spielart-Festival bietet ihnen ab 19. November eine Plattform. Das Festival Impulse zwischen Bochum und Köln (ab 21. November) führt ähnliche Grenzgänge zwischen Realität und Bühnenwirklichkeit vor.
Ein-Mann-Show. Dort spielt die Gruppe mikeska:plus:blendwerk ein Stück für nur einen Zuschauer. Im Viertelstundentakt betreten einzelne Besucher ein Hotelzimmer, um Teil eines Krimis zu werden. Als Detektive können sie die Darsteller befragen und den Fall lösen.
Die Wucht des Doku- und Mitmachtheaters beeinflusst inzwischen auch das Geschehen in den klassischen Schauspielhäusern. „Immer klarer wird, dass die reale Erfahrung des Schauspielers Teil seiner Rolle sein muss“, beschreibt Kaegis Co-Regisseurin Lola Arias die Auffassung moderner Regisseure. Selten noch bekommt das Publikum auf der Guckkastenbühne Mimen wie zu Gründgens Zeiten zu sehen, die eine Geschichte vorspielen. Häufig sehen sie dagegen Schauspieler, die bewusst darstellen, wie sie „Hamlet“ oder „Faust“ spielen.
Paradebeispiel für dieses Verständnis von Theater wurde Jürgen Goschs heftig umstrittene „Macbeth“-Inszenierung im Schauspielhaus Düsseldorf. Sieben überwiegend nackte Herren spielen sämtliche Rollen in Shakespeares königlichem Blutbad. Aber sie zeigen auch, wie sie sich bei der Arbeit zuschauen, Requisiten vorbereiten, sich gegenseitig aus großen Tuben mit Theaterblut bespritzen. „Eine radikale Theaterform, die mich tief beeindruckt“, bekennt der Münchner Residenztheater-Chef Dieter Dorn, dessen Haus eigentlich weniger extrem zu Werke geht.
Aber nicht alle Theaterleute freunden sich damit leicht an. Denn dieses Konzept geht von „flexiblen Schauspielern“ aus, die bereit sind, sich bis zur körperlichen und seelischen Nacktheit zu entblößen. Sein Unwohlsein schildert Theaterstar Ulrich Matthes: „Der Begriff des Realen ist in den letzten zehn Jahren wiederentdeckt worden. Es wird nach einer anderen Authentizität gesucht, nach etwas Privatem.“ Dabei bangt er um seine persönliche Autonomie – die Angst des Mimen, zum Selbst-Darsteller werden zu müssen. Oft habe er das Gefühl, „dass die Bereitschaft von Schauspielern, Grenzen zu überschreiten, von Regisseuren damit verwechselt wird, nur noch Knetmasse zu sein“.
Eine existenzielle Bedrohung steckt da-rin für seinen Berufsstand: Mit der „Echtheit“ eines wirklichen Polizisten kann ein Schauspieler nie konkurrieren. Vermutlich beruhigt Matthes nur wenig, dass auch die realen Kriminaler in der Münchner „SOKO São Paulo“ Probleme damit bekunden, sich selbst zu spielen.