Von Christoph Gurk
22.06.2014 / https://www1.muelheim-ruhr.de/
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, Liebe Helgard Haug, Lieber Daniel Wetzel, Liebe Autoren, Verehrtes Publikum!
Es mag sich wie eine leere Höflichkeitsfloskel anhören, aber in diesem Falle hat sie wirklich ihre Berechtigung: Ich freue mich sehr, hier stehen zu dürfen, um eine öffentliche Lobrede auf Rimini Protokoll zu halten – und zwar genau zu diesem Zeitpunkt in ihrer Laufbahn. Wie die meisten von Ihnen wissen, ist die aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel bestehende Theatergruppe bereits schon einmal hier in Mülheim, im Rahmen der Theatertage NRW, prämiert worden. Vor 7 Jahren erhielt “Karl Marx, Das Kapital, Erster Band” sowohl den Jurypreis als auch den Publikumspreis dieses Festivals. Kurz zuvor, im Jahr 2006, waren Rimini Protokoll mit “Wallenstein” zum Theatertreffen eingeladen worden.
Beide Auszeichnungen markierten für eine aus der sogenannten Freien Theaterszene kommende – also weitgehend unabhängig vom System der Stadttheater agierende oder auf jeden Fall in einem Spannungsverhältnis zu ihm stehende – Theatergruppe einen wichtigen Einschnitt. Sie zeigten an, dass sich die in ihrem Umfeld erarbeiten kulturellen Techniken samt ihrer Akteure zu etablieren begannen. Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass sich Rimini Protokoll seitdem selber zur international vernetzten und mit hohen Produktionsbudgets operierenden Institution einer Ästhetik entwickelt haben, die allgemein – und mittlerweile wenn nicht sinnfrei, so doch zumindest unscharf – mit Begriffen wie „Postdramatisches Theater“, „Dokumentartheater“ oder „theatrale Readymates“, mit Attributen wie „konzeptuell“, „diskursiv“ oder „ortsspezifisch“ verschlagwortet wird.
In den vergangenen zehn Jahren ist viel darüber geschrieben worden, dass Rimini Protokoll das Theater nicht als unhintergehbare Selbstverständlichkeit, sondern als eine Verabredung betrachten. Ihr liegen grundlegende kulturelle Vorannahmen über sich selbst zugrunde, die sich als ein spezifischer Set von Regeln beschreiben lassen. In ihren Arbeiten setzen sie sich mit diesem konzeptuellen Rahmen auseinander, legen seine Funktionsweisen frei und greifen in die von ihm behaupteten Konventionen ein, indem sie das Manual, die Spielregeln, zu genau festgelegten Bedingungen verändern.
Zu den Kunstgriffen, die ihr Werk und seine öffentliche Wahrnehmung am nachhaltigsten geprägt haben, zählt die Grundsatzentscheidung, die Trennung zwischen dem Performer, als empirische Person, und seiner Rolle – und somit gewissermaßen auch die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Spaltung zwischen privater und öffentlicher Person – aufzuheben. Der Performer könnte nicht genauso gut jemand anders sein, eine andere Identität annehmen, sondern ist von dem, was er auf der Bühne darstellt, existentiell betroffen. Darsteller und Dargestelltes fallen tendenziell zusammen.
Ein analoges Prinzip gilt für die Wahl des Ortes. Genauso wenig wie Identität nicht beliebig austauschbar ist, sind Stoffe nicht universell gültig. Spielhandlungen lassen sich gerade nicht überallhin übertragen. Sie sind von der Spezifik der Ortes, an dem sie aufgeführt werden, so sehr affiziert, dass der Stoff eines Werkes aus der investigativen Erkundung seines Schauplatzes sogar erst hervorgehen kann. Gerade dieses – in der Welt der Bildenden Kunst schon länger vorherrschende – Paradigma des Site-Spezifischen und der investigativen Recherche vor Ort scheint in eine Krise geraten zu sein.
Es hat nach wie vor seine volle Berechtigung als Einspruch gegen einen Prozess der Globalisierung, der kulturelle Differenzen und lokale Unterschiede umstandlos einebnet und nivelliert. Was aber geschieht, wenn ortsspezifisches Arbeiten und überhaupt künstlerische Verfahren, die sich der Gesellschaftskritik ebenso verschrieben haben wie der Institutionskritik, selber zum globalen Phänomen und im Kulturbetrieb hegemonial werden? Wenn Regisseure und Theatergruppen von Location zu Location jetten, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Orte, an denen jeweils ganz spezifisch gearbeitet werden soll, hinter dem Rücken der eigenen künstlerischen Intention austauschbar werden?
Um so größer waren die Freude und auch die Erleichterung, als Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel im vergangenen Jahr, wie gewohnt in unterschiedlichen Personenkonstellationen, mit gleich zwei – auf geradezu verstörende Weise aufwendigen – Projekten an die Öffentlichkeit gingen. Sie beide gehören nicht nur zu den aufregensten und anregensten Produktionen in ihrer mittlerweile 15 Jahre umfassenden Laufbahn als Künstlerkollektiv, sondern heben ihre Arbeit auch auf eine neue Stufe. Paradoxerweise geschieht das nicht, weil Rimini Protokoll ihre Prinzipien etwa revidiert oder umformuliert hätten, sondern ganz im Gegenteil, weil sie hier strenger und konsequenter zum Einsatz kommen als - vielleicht - zuletzt.
Die erste dieser Arbeiten, „Qualitätskontrolle“, wird hier, in diesem Festivalkontext, verdientermaßen mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Die andere, „Situation Rooms“, eine begehbare Multimedia-Installation, die den Besucher abwechselnd zum Beobachter und Akteur unterschiedlicher Situationen inmitten kriegerischer Handlungen oder innerhalb der Waffenindustrie machen, wurde zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen.
Hier ist nicht der Ort, um auch diese raumgreifende Produktion angemessen zu würdigen. Weil aber Rimini Protokoll gleich, im Anschluss an meinen Beitrag, einige Videoclips aus „Situation Rooms“ zeigen werden, sei nur am Rande bemerkt, dass die Gruppe hier ein durch und durch artifizielles und technoides Setting entwerfen, in dem das inflationär aufgerufene Paradigma der Interaktivität und der Publikumsbeteiligung – ein weiteres Klischee der sogenannten „postdramatischen“ oder „konzeptuellen Theaters – aller kitschiger Versprechen auf Demokratisierung kultureller Räume entkleidet wird.
Die Besucher werden Teil einer durchdigitalisierten Spielanordnung, einer gerade in ihrer Künstlichkeit erschreckend realen Lebenswelt, in der Entscheidungs- und Bewegungsmöglichkeiten durch die Algorythmen einer auf dem iPad installierten Navigationssoftware definiert sind. Virtuelle Bilder und Echzeithandlungen gehen bruchlos ineinander über und verschmelzen zu einem medienkritischen Tableau, das viel von den Reflexionen eines Harun Farocki zum Genre des Videospiels und seinen Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex unter den Bedingungen des Theaterkontexts weiterdenkt.
Die in Koproduktion mit dem Staatstheater Stuttgart entstandene Arbeit „Qualitätskontrolle“ wirkt von seiner Spielanlage her, zumindest auf den ersten Blick, ungleich bescheidener und scheint auf fast schon konventionelle Weise die in einem Stadtteater gepflegten Formate zu bedienen. Es ist über weite Strecken ein Monolog, ein von Helgard Haug und Daniel Wetzel in Zusammenarbeit mit einer und für eine einzelne Schauspielerin geschriebenes Solo. Hier und da wird es um kurze Dialoge mit zwei unterstützenden Darstellern erweitert. Die vierte Wand bleibt da, wo sie ist. Wir haben es mit einer klassischen Frontalsituation zu tun.
Schon deshalb ist es eigentlich erstaunlich, dass während der Mülheimer Theatertage eine bereits vor sieben Jahren geführte Diskussion aufgewärmt wurde: Es hieß, „Qualitätskontrolle“ entspreche nur bedingt den Kriterien, die ein Theaterstück im Kontext dieses Festivals zu erfüllen habe. Klar, wir haben bereits gesehen, dass es bei den Inszenierungen von Rimini Protokoll nie gleichgültig ist, wer da auf der Bühne sich selbst spielt. Insbesondere im Fall von „Qualitätskontrolle“ scheint die Aufführbarkeit an die Protagonistin gebunden zu sein, an die Person der Maria-Christina Hallwachs, die das gesprochene Wort mit ihrer physischen Anwesenheit authentifiziert.
Aber gilt das nicht bis zu einem gewissen Grad für alle Solostücke, die ein Autor mit einem bestimmten Schauspieler im Hinterkopf verfasst? Was genau unterscheidet „Qualitätskontrolle“ kategorisch von Werken, die – sagen wir – ein René Pollesch in enger Zusammenarbeit mit und für zentrale Protagonisten wie Fabian Hinrichs, Sophie Rois oder Martin Wuttke schreibt?
Vorhin haben uns Rimini Protokoll einen kurzen Auszug aus dem gleichnamigen Hörspiel vorgespielt. Hier kommt das Stück bereits ohne die körperliche Präsenz der Protagonistin aus, die uns aber, auf gleichermaßen wundersame und beklemmende Weise, als Stimme, um so näher – um nicht zu sagen: auf die Pelle – rückt. Man spürt, wie intensiv die Begegnung mit Maria-Christina Hallwachs, das Arbeit mit ihr gewesen sein muss.
Die körperliche Verfassung der Protagonistin lässt allen, die mit ihr zusammentreffen, kaum eine andere Wahl, als sich voll und ganz auf sie als Person einzulassen. Die Tiefe des Kontakts, der sich zwischen den Autoren des Stücks und Maria-Christina Hallwachs hergestellt haben wird und der vielleicht eine noch größere Herausforderung bedeutet als die Arbeit mit “Business Angels” in Lagos, klingt an jeder Stelle des Textes durch. Gleichzeitig würde “Qualitätskontrolle” als Stück sich selbst verfehlen, würde das ihn ihm Ausgedrückte nicht immer auch über den konkreten Einzelfall, das Schicksal der Maria-Christina Hallwachs, weit hinausgehen.
„Qualitätskontrolle“ handelt von Behinderung. Im Rahmen eines minimalen, klar als bühnenhaft sich selbst adressierenden und übrigens genauso technoiden Settings, wie es bei „Situation Rooms“ anzutreffen ist, erzählt Maria-Christina Hallwachs ihre Geschichte. Von ihrer mehr als 20 Jahre zurückliegenden Abiturreise mit ihren Eltern, ihrem Sturz ins Kinderbecken eines Swimmingpools, der Rückreise mit ihrem Vater nach Schwaben, der sich unter dem Schock des Ereignisses kurz wünschte, das Flugzeug, in dem sie sitzen, möge abstürzen. Von dem künstlichen Koma, in das sie versetzt wurde. Von den Sitzungen eines eigens eingesetzten Ethikrates, der darüber beriet, ob man einem Menschen, der einen Genickbruch überlebt hat und nun bis auf den Kopfbereich vollständig gelähmt ist, selber die Entscheidung überlassen sollte, ob er – oder sie – eine von Maschinen und Pflepersonal vollständig abhängige Existenz führen möchte.
Auf der Grenzlinie zwischen Sein und Nichtssein – oder „Gemüse Sein“, wie sie es selber im Stück ausdrückt – hat sich Maria-Christina Hallwachs für das Leben entschieden. Wäre das vor ihrem Sturz überhaupt denkbar gewesen? “Dass man sich etwas nicht vorstellen kann”, sagt sie, “ist kein Argument gegen irgendetwas.” Wenn sie solche Sätze ausspricht und fast im gleichen Atemzug sich selbst und dem Publikum vorrechnet, was die Arbeitsstunde eines Pflegers kostet, wieviele dieser Einheiten bereits notwendig gewesen sind, um sie im Leben zu halten, 150.000 Arbeitsstunden, die keine Krankenkasse im Voraus eingeplant hat, dann geht es wirklich schon lange nicht mehr nur um ihren Fall.
Maria-Christina Hallwachs adressiert sich, auf exemplarische und beispielhafte Weise, in ihrem Menschsein selber – nicht anbiedernd menschelnd und auf die Herstellung von Betroffenheit hinaus. Es geht um das Leben in seiner konstitutiven Begrenzheit und Endlichkeit – und in ihrem Falle auch in seiner Versehrtheit. Aus dieser relativ einfach beschreibbaren, aber um so existentielleren Situation heraus, entfaltet der von ihr gesprochene Text auf atemberaubend elegante und plausible Weise eine Konstellation von Themen, über die man wirklich sagen kann, dass es die großen und letzten sind.
In der letzten Zeit hat es im Theater eine ganze Reihe von Stücken gegeben, in denen Behinderte als zentrale Protagonisten auf der Bühne stehen. Angefangen bei der großartigen Oper „Kunst und Gemüse – Kunst ALS Krankheit“ von Christoph Schlingensief. Bis hin zu den Inszenierungen des Back To Back Theatre aus Australien oder des Theater HORA aus der Schweiz, das für „Disabled Theatre“, eine Kollaboration mit dem französischen Choreographen Jerome Bel, vor zwei Jahren zum Theatertreffen eingeladen wurde. In der Auseinandersetzung mit diesen Akteuren wird sichtbar, wie fließend die Grenzen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten sind, wie sehr der Behinderte – als Gegenstand von mal offener, mal verdeckter Ausgrenzung und Diskriminierung – durch die Nichtbehinderten selber hervorgebracht wird, bis an dem Punkt, an dem die Frage legitim wird, ob wir, die sich selbst als Nichtbehindert verstehenden, nicht die eigentlich Behinderten sind?
Nachdem sie aus dem Koma erwacht ist, sagt einer der Pfleger zu Maria-Christina Hallwachs: “Von nun an bist Du ein Kopfmensch.” Aus einer Position extremster Bewegungsunfähigkeit, die selber erst einmal nicht sozial konstruiert, sondern eine schiere physische Tatsache ist, stellt “Qualitätskontrolle” die auf eine Selbstreflexion des Theaters zielende Frage, was es eigentlich bedeutet, zu spielen. Der technische Apparat, der die Protagonistin samt des Hilfspersonals umgibt, ist immer auch eine Metapher auf die einschränkenden wie auch das Spiel überhaupt erst ermöglichenden Gewerke des Theaters, in denen stets die Verhältnisse, in denen wir spielen und leben, miniaturhaft zum Audruck kommen.
Auf der grundsätzlichsten Ebene überhaupt geht „Qualitätskontrolle“ noch einen Schritt weiter und konfrontiert uns mit der Abgründigkeit der Frage: „Was ist das Leben eines Menschen wert“? Was heißt es, wenn eine Gemeinschaft das Recht hat zu entscheiden, wer leben darf und wer stirbt? Ist der Wert des Lebens von seinem Nutzen und seiner Profitabilität für die Allgemeinheit abhängig? Was passiert, wenn die Beantwortung dieser Frage dem Tauschwert von Arbeit und der Logik des Geldes unterworfen und zu einer Frage der Ökonomie erklärt wird?
Mit anderen Worten: Es geht um Biopolitik in dem Verständnis von Michael Foucault. Die Grenzen zwischen Leben und Tod verschieben sich, sie sind fließend, weil die Beantwortung der Frage nach Leben und Tod eine politische geworden ist, und das war nicht immer so: „Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist“, schreibt der französische Philosoph in seinem Werk „Der Wille zum Wissen“. „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“
Es war der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der in seinem Buch „Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben“ anhand der Figur des heiligen Lebens, das nicht geopfert, aber wohl getötet werden darf, die Arbeitslager und die Euthanasieprogramme der Nazis – in „Qualitätskontrolle“ von Maria-Christina Hallwachs historisch korrekt beschrieben als der Versuch, „das Volk von der Last der Kranken zu befreien“ – nicht als Auswuchs und Pervertierung, sondern als zentrales biopolitisches Paradigma der Moderne beschrieben hat.
Anhand der Geschichte seiner Protagonistin (und ihrer Schwester, die schon behindert auf die Welt gekommen ist, ein „Freak Of Nature“, wie Maria-Christina Hallwachs sagt) geht das Stück dem stillschweigenden Fortleben dieser Logik in der Gegenwart nach, im Geschäftsgebaren von Krankenkassen oder in der pränatalen Diagnostik, die den Vorgang der Selektion vor den Zeitpunkt der Geburt eines Menschen verlegt. Indem „Qualitätskontrolle“ die Frage nach dem Wert des Lebens stellt, adressiert das Stück ebenso – und darin ist es der Installation „Situation Rooms“ thematisch gar nicht so unanähnlich – die Politiken des Todes, den Abgrund der Moderne, die Nekropolitik.
Nicht nur Helgard Haug und Daniel Wetzel, sondern auch den Theatergängern in Mülheim möchte ich ein Lob aussprechen. Heute wird ein Stück mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, das sich jenseits fragwürdiger Anbiederungen an die Wirklichkeit, an das Reale, oder was man dafür hält, auf der Höhe seiner Zeit bewegt. Ich gratuliere!
Gehalten am 22. Juni 2014 von Christoph Gurk